In der Taubengasse

Herr Graf streicht der Taube übers Gefieder. Sie ist weiß und sehr sanft, sie öffnet und schließt nur die AugenWenn die Grafs an Tauben denken, denken sie auch ans Essen. Frau Graf schmort sie auf dem Rost

AUS BERLIN JOSEFINE JANERT

Familie Graf hat zwei Katzen. Die eine sitzt an der Heizung, die andere spaziert durch den Garten. Die beiden müssen Pazifisten sein, denn wenn es um Rolf Grafs Lieblingstiere geht, ziehen sie ihre Krallen ein. Sie versuchen gar nicht erst, in die Käfige zu gelangen, sie halten sich an ihr Futter und die Menschen. Grafs Katzen leben in friedlicher Koexistenz mit der Süddeutschen Blasse, der Süddeutschen Mönchtaube und der Süddeutschen Schildtaube – mit insgesamt hundert Vögeln in Grafs Garten. Die Katzen beißen sie nicht, sie jagen sie nicht, sie hocken auf ihren Lieblingsplätzen und verdauen ihr Kitekat.

Tauben machen aus Katzen friedliche Katzen und aus Menschen glückliche Menschen. Das ist kein Wunder, denn es sind prachtvolle Tiere. Es gibt sie in Weiß und Schwarz und in vielen leuchtenden Farben, „belatscht“, also mit Gefieder am Fuß, mit roten Ringen um die Augen und einer so genannten Rosette, einem winzigen Wirbel aus Federn am Kopf. Wem bei dem Wort Taube jene graublauen Geschöpfe einfallen, die Parks und Dächer der Städte bevölkern, der ist ein Ignorant. Der Poet, der Gourmet, der politische Mensch denkt an Aschenputtel, Picassos Bild von der Friedenstaube oder an gebratene Täubchen mit Spargel.

Rolf Graf aus Berlin denkt bei dem Wort Taube an die Tiere in seinem Garten, an den Club Reinickendorfer Taubenzüchter, dessen Erster Vorsitzender er ist, und an die drei oder vier Vogelschauen im Jahr, auf denen er ehrenamtlich als Preisrichter wirkt. Zuletzt bewertete er in Leipzig rund achtzig Tiere. Graf ist 44 Jahre alt, blond und schlank. Er hat Feinblechner gelernt, Fachrichtung Isolierklempner. Bevor Rolf Graf arbeitslos wurde, war er als Experte für technischen Schallschutz jahrelang vor allem im Raum Berlin und in Ostdeutschland unterwegs. Wenn er fort war, fütterte Regine Graf die Tauben. Sie ist gelernte Apothekenhelferin und seit 17 Jahren Hausfrau. Die Grafs haben drei Söhne. Wenn sie an die Ostsee fahren, springt ein Vereinskollege ein und kümmert sich um die Tauben. Der Urlaub dauert nur eine Woche, denn im Sommer, wenn es am Meer am schönsten ist, schlüpfen daheim die Jungen. Innerhalb von sechs bis zehn Tagen müssen Ringe über ihre Füße gestülpt werden. Nur so werden sie später auf Rassetaubenausstellungen zugelassen. „Wir passen auch auf, dass die Ringe nicht herunterrutschen“, sagt Graf.

Die Familie wohnt in Spandau am westlichen Rand Berlins. Eine stille Straße mit vielen Einfamilienhäusern. Der nächste S-Bahnhof ist fünfzehn Fahrminuten entfernt. Hinter Grafs Garten beginnt eine Wiese. Vor vierzig Jahren war es hier noch ruhiger, gab es hier noch mehr Grün und noch mehr Kleintierhalter, aber dann wurden die Schrebergärten aufgelöst und Wohnhäuser aufs platte Land gesetzt. Da verschwanden auch viele Ställe mit Kaninchen und Hühnern, die sich manche Leute als Hobby und für den Kochtopf hielten.

Rolf Graf ist hier aufgewachsen. Seit seiner Jugend lebt er mit Tieren. Für seine Enten zupfte er Butterblumen auf den Wiesen der Umgebung. Mit 16 Jahren besuchte er einen Onkel in Hamburg, der Tauben besaß. „Was der kann, kann ich auch“, dachte Graf und widmete sich fortan diesen Vögeln. In Züchterkreisen ist er mittlerweile ein geachteter Mann. „Er kann Leute integrieren und für unsere Sache motivieren“, sagt Harald Köhnemann, Erster Vorsitzender des Verbandes Deutscher Rassetaubenzüchter (DTV). Er lobt Herrn Graf auch dafür, dass er sich als einer der wenigen Berliner den Süddeutschen Farbentauben widmet. Sie heißen so, weil die Rassen erstmals in Baden-Württemberg registriert wurden. Es gibt auch Schweizer und Sächsische Farbentauben.

Viele Nachbarn kennen Grafs Hobby. Sie geben ihm Bescheid, wenn sie eine Brieftaube finden und nicht wissen, wo die hingehört. Herr Graf setzt sich dann ans Telefon und spricht mit dem Brieftaubenzüchterverein, damit das Tier zurückgebracht wird. Anhand der Ringe, die die Tiere an den Füßen tragen, können sie ihren Besitzern zugeordnet werden.

Grafs Tiere sind keine Brieftauben, sie sind Rassetauben. Abgesehen von den paar Malen im Jahr, wenn die edleren unter ihnen auf Ausstellungen gezeigt werden, bleiben sie, wo sie sind, in der 50 Quadratmeter großen Voliere. Durch die Vogelgrippe sind die Taubenzüchter eingeschränkt, was Kleintierschauen anbelangt. Der örtliche Kreisveterinär muss entscheiden, ob Ausstellungen stattfinden, und erteilt Auflagen. Im Süden Deutschlands ist man diesbezüglich etwas strenger als hier.

Die Tauben in der Voliere gurren leis. Als Rolf Graf die Tür öffnet und eine greift, flattern die anderen aufgeregt durch die Lüfte. Das erinnert ein bisschen an gewisse Sequenzen aus Hitchcocks Film „Die Vögel“, aber Herr Graf bleibt ganz ruhig. Er streicht der Taube übers Gefieder. Sie ist weiß und sehr sanft. Sie hackt nicht, sie öffnet und schließt nur ihre Augen. Die anderen Vögel hocken jetzt in der Ecke und schauen Herrn Graf an. Keines der Tiere hat einen Namen, aus Prinzip nicht. „Schließlich sind Tauben kein Spielzeug und ich habe hier kein Puppenhaus“, sagt Graf. Er hat auch keinen Liebling unter den Vögeln. Er mag Rassetauben als solche, nicht als einzelne Geschöpfe. Er genießt es, „mitzuerleben, wie sie Eier legen, wie nach 18 Tagen die Jungen schlüpfen und wie sie groß werden – ein Naturerlebnis.“

Diese Begeisterung teilt Graf mit rund 200.000 Menschen, von denen etwa 25.000 im Verband Deutscher Rassetaubenzüchter organisiert sind. Die Mitgliederzahlen sind seit Jahren stabil. Die Fans der Brieftaube werden extra gezählt. Es gibt ihrer rund 80.000. Während die Rassetaube vor allem hinsichtlich optischer Gesichtspunkte bewertet wird, etwa ihres Gefieders und ihrer Haltung, trimmt der Brieftaubenzüchter seine Vögel darauf, ihr Ziel möglichst rasch zu erreichen. Gesund und leistungsfähig sollen alle Tiere sein. „Wir Deutschen sind europäische Spitze, was das Taubenzüchten anbelangt“, sagt Herr Köhnemann vom DTV. „Wir haben die meisten zugelassenen Taubenrassen, rund 300, und auch die meisten Mitglieder in diversen Züchtervereinen.“ Der deutsche Taubenliebhaber ist im Durchschnitt Mitte fünfzig und damit angeblich etwas jünger als der Kaninchenhalter. Die Liebe zur Taube eint Arbeiter, Professoren, Bankangestellte und 90-jährige Rentner. Von jeher findet man mehr Taubenzüchter als -züchterinnen. „Frauen mussten sich früher mehr um den Haushalt und die Kinder kümmern und hatten wenig Zeit für Hobbys“, erläutert Herr Köhnemann.

Oft ist das Halten von Rassetauben nur möglich, wenn die Familie mitzieht. Das Futter muss bezahlt werden und der Tierarzt, der alle zwölf Monate zur Routineimpfung kommt. „Wir legen ohnehin keinen Wert auf teure Markengarderobe“, sagt Regine Graf. Das Taubenhaus im Vorgarten kaufte das Paar von dem Geld, das es zur Hochzeit geschenkt bekam. Auf dem Dach des Graf’schen Hauses trotzt eine Keramiktaube Wind und Wetter. Am Weg, der zum Eingang führt, hängt das Schild „Taubengasse“. Manchmal, sagt Graf, gebe es schon Diskussionen darüber, dass wegen der Tauben „die Zeit für die Familie fehlt.“

Rolf Graf besitzt einen Band, den er „unser Gebetsbuch“ nennt. Es ist die Satzung. Der Club Reinickendorfer Taubenzüchter tritt mehrere Male im Jahr zu einer Sitzung zusammen. Das Werk ist zudem ausschlaggebend für Grafs Tätigkeit als Preisrichter. Es gilt als unlauter, das Urteil eines anderen Juroren über eine Taube öffentlich zu kritisieren. Wer das wagt, riskiert eine Verwarnung, ein Bußgeld von 50 oder 100 Euro, in schweren Fällen ein Verfahren vor dem Ehrengericht. Herr Graf ist das noch nicht passiert, er ist diplomatisch. „Wenn ich mal anderer Meinung bin, sage ich das dem Preisrichter unter vier Augen.“

Wenn die Grafs an Tauben denken, denken sie auch ans Essen. Regine Graf schmort die Vögel auf dem Rost, gerne gefüllt mit je einer Backpflaume. Oder sie schneidet das Fleisch in den Eintopf. Karotten, Bohnen und Kohlrabi schmecken gut dazu, am besten frisch. „Das ist mit Brathähnchen nicht zu vergleichen“, schwärmt Rolf Graf. Er tötet die Vögel und rupft sie, während seine Frau am Herd arbeitet. Manchmal täte ihm das schon leid, sagt er, aber warum solle er teuer im Supermarkt einkaufen, wenn er hochwertiges Geflügel sein Eigen nennt? Er ist beileibe nicht der einzige Züchter, der seine Tiere aufisst. Viele Vereinskollegen aus dem DTV schlachten Vögel, die sich nicht für die Zucht eignen, weil sie Haltungsschäden oder andere Mängel aufweisen.

Pro Erwachsenem rechnet Regine Graf zwei bis drei Tauben. Der jüngste Sohn, fünfeinhalb, mag das Fleisch an der Brust, der 14-Jährige verzehrt eine ganze Taube allein, der 17-Jährige hingegen isst sie gar nicht, obwohl er, meint Herr Graf, dem Hobby des Vaters sonst aufgeschlossen gegenübersteht. Der Schwiegervater hingegen sagt alle anderen Termine ab, wenn die Grafs wieder einmal zur Taubenmahlzeit einladen. Die Graf’sche Taube ist ein Schmuckstück – ihr Gefieder, ihr Geflatter, ihr Geschmack.