Ein Mann für gewisse Stunden

VON NADINE FRENTHOFF

Manche Kundin fragt ihn schon an der Tür, ob sie sich ins Bett legen soll. Wo sie doch völlig gesund ist. Und Jens Gantzel kommt doch nur vorbei, um ihr eine Stunde lang vorzulesen.

Vorlesen? Hört sich irgendwie antiquiert an. Angesagt sind doch eher „Deutschland sucht den Superstar“, iPods und MTV. Knallig bunte Action statt Besinnlichkeit. „Sicher ist Vorlesen ein bisschen altmodisch“, räumt der 40-jährige Gantzel ein. Doch Altmodisch-Sein schreckt den freiberuflichen Vorleser und Erzähler nicht. In seiner Kölner Wohnung steht nicht nur ein 50er-Jahre-Radio, sondern auch eine Vitrine mit Geschirr aus etwa derselben Zeit. Auch er selbst macht trotz modischen Pullovers und Lederjacke eher den Eindruck eines Mannes, dem etwas an Tradition liegt.

Einen Fernseher hat der eher zurückhaltende Literaturfan nicht. Aber in seinem Bücherregal reihen sich Shakespeare- an Goethebände, steht Kästner bei Remarque. „Ich glaube, dass der Wunsch nach mehr Ruhe, mehr Verbundenheit und mehr Familie in unserer Zeit wieder stärker wird. Dazu gehört eben auch Vorlesen.“ Auf Tauchstation gehen, sich an die Kindheit zurück erinnern, als die Mutter abends am Bett Märchen vorlas, aussteigen aus dem Stress des Alltags. So ist es jedenfalls bei Gantzel selbst, für den zu einer guten Partnerschaft auch zählt, dass man sich gegenseitig etwas vorliest.

Als Indiz dafür, dass Lesen und insbesondere Vorlesen in ist, sieht der Mann mit der sonoren Stimme und der dicken Brille den steigenden Hörbuchabsatz. Vor allem die Belletristik ist dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels zufolge auf Wachstumskurs. Hatte sich der Umsatz an Hörbüchern in Deutschland schon 2004 gegenüber dem Vorjahr um 20,6 Prozent erhöht, so stieg er in den ersten sechs Monaten des Jahres 2005 schon um 34,6 Prozent.

Wunderliche Situationen

Als Konkurrenz empfindet Gantzel die Hörbücher nicht. „Die sind technisch sehr professionell gemacht und haben tolle Sprecher. Aber man kann sich nicht das anhören, was man hören möchte, das Lieblingsbuch etwa, sondern muss nehmen, was auf dem Markt ist.“ 39 Euro kostet eine Stunde bei Gantzel. „Aber es ist wie bei der taz: Wer kann, darf auch gerne mehr bezahlen, dafür nehm ich bei jemand anderem ein bisschen weniger“, sagt er mit einem Grinsen. Bisher hat aber noch nie jemand mehr gezahlt.

Inspiriert dazu, Vorleser zu werden, haben Jens Gantzel die witzig-erotische französische Filmkomödie „Die Vorleserin“ (1988) mit Miou-Miou und seine Mutter. „Auch wenn das eine eher traurige Geschichte ist. Meine Mutter hat gern gelesen, und als ihre Augen schlechter wurden, hat sie sehr darunter gelitten. Das hat mich auf die Idee gebracht, anderen vorzulesen.“

Wunderliche Situationen oder kuriose Persönlichkeiten, wie sie Miou-Miou als Vorleserin begegnen, hat der Kölner noch nicht erlebt. „Mir ist noch keine kommunistische Witwe über den Weg gelaufen, die, im Bett liegend, Engels und Marx vorgelesen bekommen wollte“, sagt er und guckt so, als bedauere er das ein wenig. Seine Kunden seien „eher normal, zwischen 40 und 60 Jahren alt, nicht so viele ältere Leute, wie ich gedacht hätte, insgesamt mehr Frauen als Männer“.

Dass er wie Miou-Miou in zweideutige Situationen gerät oder aus erotischen Werken lesen soll, ist allerdings noch nicht vorgekommen. Und das, obwohl er durchaus findet, dass „Vorlesen eine intime Angelegenheit ist“ und er die Auswahl der Schmöker seinen Kunden überlässt. „Romane, Sachbücher, Klassiker – von mir aus kann es auch ein Physikbuch sein, wenn es denn hilft.“ Er selbst liest am liebsten Klassiker, „aber nicht Goethe, selbst wenn er dieselben Initialen hat wie ich: J.W.G. wie Johann Wolfgang von Goethe oder Jens Werner Gantzel.“ Sagt‘s und muss selbst schmunzeln, dass ihm das irgendwann aufgefallen ist. Beim Vorlesen macht er nur zwei Einschränkungen: „Rechte Literatur und Horrorgeschichten kommen nicht in Frage.“

Auch beim Ort ist Gantzel grundsätzlich offen für Wünsche. „Wenn jemand sagt, er möchte gern unter einer Kastanie auf dem Kölner Melatenfriedhof sitzen, okay, dann machen wir es dort. Und wenn jemand auf der Kaimauer am Rhein sitzen will, ist das genauso in Ordnung wie in der U-Bahn“, sagt Gantzel. Er selbst, erzählt er schmunzelnd, habe sich früher oft in einer Bielefelder Szenekneipe in Schiller oder Kleist vertieft. „Da erntet man schon komische Blicke“, gibt er zu. Der Klassiker aber sei das Wohnzimmersofa. „Am besten noch mit einem Tee oder einem Kaffee und dann zurücklehnen und zuhören.“

Vorlesen ist für Gantzel eine Dienstleistung wie Essengehen im Restaurant, Yoga oder eine Massage. Man solle sich etwas gönnen dürfen, sagt er. „Zum Glück sind wir nicht mehr so genussfeindlich wie in den 70er und 80er Jahren.“ Damals habe man ja „vor lauter political correctness nicht mehr genießen“ können. „Beißer-Askese“ nennt Gantzel das, und man sieht ihm die Erleichterung darüber, dass die vorbei ist, förmlich an.

Vorlesen, so Gantzel, sei für ihn fast so etwas wie Luxus, ein Ausgleich zu seinem stressigen Schreibtischjob. Der ist allerdings auch nicht so ganz alltäglich. Mit einem Kompagnon sichtet er Gedichte und Geschichten junger Autoren und lässt Brötchentüten damit bedrucken. Abnehmer sind Bäckereien und Ökoläden in 160 deutschen Städten. In den ersten acht Monaten des Bestehens ihres „Lesefutter“-Verlags haben die beiden 650.000 Tüten aufgelegt. „Ich telefoniere viel, bekomme ständig Mails, aber persönliche Kontakte bringt der Job nicht so viele, wie ich mir wünschte“, sagt Gantzel. Das Vorlesen ist daher der angenehme Teil seiner beruflichen und finanziellen Mischkalkulation. Und die, sagt er, müsse er als Selbstständiger nun mal ständig im Auge behalten.

Studienabbrecher

Der Mann mit dem dunklen Haar, das sich an einigen Stellen schon lichtet, ist stolz auf seine Ideen. „Ist ein Supergefühl, wenn man merkt, dass die Firma drei Mitarbeiter ernähren kann.“ Er kennt auch andere Zeiten, hat sein Soziologiestudium abgebrochen, eine Tontechnikerausbildung absolviert, als Taxifahrer gejobbt, fuhr für die Post Lkw, war lange arbeitslos. Sogar für arbeitsunfähig hatte ihn ein Arzt erklärt.

Und dann, eines Tages, kamen die Ideen. „Lesefutter“ läuft, wie er sagt, „großartig“, und auch das Vorlesen komme gut an. „Ich ersticke zwar nicht an Aufträgen, aber so vier Mal im Monat bin ich schon bei jemandem zum Lesen.“ Wenn er dann dort in einen Sessel sinkt und ein Buch vor Augen hat, ist ihm anzusehen, wie er in die ferne Welt abtaucht. Ab und an entfährt ihm etwas, das klingt wie ein „Puh“ oder ein Erstaunen darüber, was die Protagonisten des Werks so erleben. Schon öfter ist es ihm passiert, dass er nach der Lektüresitzung wusste, was er als Nächstes lesen würde. Wenn auch nicht immer. „Manchmal war mir auch klar, dass ich das Buch nie wieder freiwillig anrühren würde.“

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