„Der Wahlsieg der Hamas spielt keine Rolle“

Der überraschende Erfolg der Islamisten in den palästinensischen Gebieten hat kaum Folgen für die Wahlen in Israel Ende März. Angstkampagnen sind im Wahlkampf nicht mehr angesagt, meint der Wahlforscher Avi Degani

taz: Herr Degani, Ihr Institut konzentriert sich auch auf die Stimmung im israelisch-arabischen Sektor. Haben Sie bereits Umfragen zum Streit um die umstrittenen Mohammed-Karikaturen durchgeführt?

Avi Degani: Bisher nicht, aber man sieht an den Demonstrationen, wie die Bevölkerung darüber denkt.

Der überraschend deutliche Wahlsieg der islamistischen Hamas in den Palästinensergebieten scheint bisher keinen großen Einfluss auf die Wahlen in Israel Ende März zu haben. Überrascht Sie das?

Nein. Die israelische Öffentlichkeit geht nicht davon aus, das etwas passiert ist, worauf sie reagieren muss. Vorläufig verschärft nur der Chef des Likud, Benjamin Netanjahu, seine Behauptungen, dass Israel nicht vorsichtig genug ist und zu große Zugeständnisse an die Palästinenser macht. Er sagt unter anderem, dass der Flughafen Ben-Gurion gefährdet ist, weil er zu dicht an den Gebieten liegt, von denen aus die Hamas vielleicht schon morgen Raketen auf uns abfeuern könnten. Die anderen Parteien haben in ihrem Wahlkampf noch keinen Bezug auf die palästinensischen Wahlergebnisse genommen.

Glauben Sie, dass der Verweis auf eine neue drohende Gefahr durch eine Hamas-Regierung Früchte tragen wird?

Der Likud hat nach unseren Umfragen ein Mandat hinzugewonnen. Insgesamt hinterlässt diese Kampagne aber keinen großen Eindruck.

Bisher ist diese Taktik in Israel aber aufgegangen?

Das stimmt schon. Die Leute sind es aber inzwischen gewohnt, dass ständig einer ruft: Gefahr, Gefahr!, und nichts ist passiert. Israel verlässt sich auf sich selbst, und die Bevölkerung verlässt sich auf den amtierenden Regierungschef Ehud Olmert, dass er das Richtige tun wird – obschon die Entscheidung, die Zoll- und Steuergelder trotz der Wende in den palästinensischen Gebieten weiter an die Autonomiebehörde zu zahlen, vielleicht bei einem Teil der Bevölkerung eine gewisse Verbitterung auslöst. Aber das wäre dann der Teil der Bevölkerung, der ohnehin Likud oder rechts davon wählte.

Wäre es nicht logisch, dass sich die von Ariel Scharon und Ehud Olmert vor kurzem gegründete Partei Kadima den Sieg der Hamas zunutze macht und den Wähler fragt: Stellt euch vor, wir wären nicht abgezogen, wir stünden heute noch im Gaza-Streifen?

Tatsache ist, dass die Partei Kadima vom Wechsel im palästinensischen Lager nicht in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie gewinnt sogar dazu. Die Wähler haben jede Form von Radikalismus satt. Nachdem Ministerpräsident Ariel Scharon ins Koma fiel und es klar wurde, dass er nicht mehr ins politische Leben zurückkehren würde, haben wir die Leute gefragt, warum sie trotzdem bei Kadima bleiben.

70 Prozent antworteten, dass sie eine Bewegung wollen, die nicht zu weit links und nicht zu weit rechts steht und die über ausreichend Flexibilität verfügt, sich der aktuellen Situation anzupassen. Das ist eine sehr interessante Antwort, denn die Partei Kadima verfügt über keinen klaren politischen Weg – weder unter Ehud Olmert noch zuvor unter Ariel Scharon. Die Öffentlichkeit sucht also offenbar im Moment keinen Politiker, der ihr sagt, was zu tun ist oder nicht, sondern eine Person, auf die Verlass ist und die das Richtige zu tun weiß. Darüber hinaus sagt die Mehrheit unserer Befragten: Alle Alternativen zu Kadima sind schlechter. Mit Kadima tritt zum ersten Mal eine echte Partei der Mitte an.

Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Israelis Verhandlungen auch mit einer Hamas-Regierung befürworten, gleichzeitig herrscht unter den großen Parteien Likud, Arbeitspartei und Kadima ein Konsens, dass das nicht passieren wird.

Wir haben am Morgen, nachdem die palästinensischen Wahlergebnisse veröffentlicht wurden, eine Umfrage gemacht. Die eine Hälfte der Befragten lehnt Verhandlungen mit der Hamas grundsätzlich ab, die andere Hälfte meint, lasst uns abwarten. Ähnlich wie Expremierminister Schimon Peres meint diese Hälfte, man sollte nicht gleich alle Türen zuschlagen.

So gesehen sind die Türen bereits zugeschlagen.

So ist es, und das zeigt, dass die Bevölkerung moderater ist als das, was die Parteiführer demonstrieren. Zumindest im Verlauf des Wahlkampfs.

Die Arbeitspartei wirbt mit seiner sozialpolitischen Agenda und hat zum israelisch-palästinensischen Konflikt nicht viel beizutragen. Rückt die wirtschaftliche Not in Israel mit der palästinensischen Wende wieder in den Hintergrund?

Ich glaube, dass die wirtschaftliche Not niemals im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Vermutlich wird sie dort auch niemals stehen. Denn die Kreise, die den Staat verwalten, sind nicht hungrig. Paradoxerweise sehen wir, dass der Likud, der über viele Jahre an der Regierung war und den Armen und den wenig entwickelten Regionen die Unterstützung versagte, gerade in den sozial schwachen Bevölkerungsschichten die größte Sympathie genießt. Für die Mehrheit ist nicht die Sozialpolitik vorrangig, sondern die persönliche Sicherheit.

INTERVIEW: SUSANNE KNAUL