Die alte Liebe neu entdeckt

MASSENPSYCHOLOGIE Eigentlich gelten die Sympathien der brasilianischen Fans traditionell Außenseitern wie Tahiti oder Nigeria. Doch ebenso groß ist die Sehnsucht nach einem souveränen Erfolg der Seleção beim Confed Cup

Die Schmach von 1950, als Ghiggia mit seinem Treffer Uruguay zum Weltmeister machte, ist ein brasilianisches Trauma

AUS FORTALEZA JOHN HENNIG

Die Brasilianer haben in der ersten Woche des Confed Cup ihre soziale Ader gezeigt. Nicht nur auf den Straßen setzten sie sich lautstark für ein gerechteres Land ein. Auch in den Stadien des Vorbereitungsturniers auf die kommende Weltmeisterschaft gehörten den Außenseitern die Sympathien der Gastgeber. Japan wurde nach dem wohl besten Spiel der Vorrunde, einem unglücklichen 3:4 gegen Italien, frenetisch gefeiert, das ausgeschiedene Nigeria trotz eines 0:3 gegen Spanien beklatscht. Über allem aber thronte Tahiti.

Die hoffnungslos unterlegene Amateurmannschaft aus dem südpazifischen französischen Überseegebiet hat mit drei leidenschaftlichen Auftritten die Herzen der Brasilianer erobert. Auch Fernando Torres, mit fünf Treffern bislang bester Torschütze, outete sich nach dem 10:0-Sieg seiner Spanier als Fan der Toa Aito: „Die Unterschiede sind massiv. Aber es hat Spaß gemacht, weil sie mit der Freude spielen, die auch wir als Amateure hatten. Sie sind ein Vorbild für alle Sportler.“ Ihre Reise kürte Jonathan Tehau mit dem historischen, viel umjubelten Ehrentreffer. Tahiti sorgte zudem mit seinen 24 Gegentreffern dafür, dass sich die Zuschauer schon nach der Vorrunde über mehr Treffer freuen durften (58) als bei jedem anderen Confed Cup zuvor.

Nur bei ihrer Seleção vergessen die brasilianischen Zuschauer ihre eigene Vorgabe. Brasiliens Mannschaft, ebenso verjüngt wie chronisch favorisiert, soll wieder große Erfolge feiern, am liebsten sofort, auch wenn nach den Siegen 2005 in Deutschland und 2009 in Südafrika jeweils das frühe Aus bei der WM im Jahr darauf folgte.

Die Mannschaft hat es zunächst geschafft, den zuletzt zweifelnden Seelen ihre Liebe zur Seleção wiederzugeben. Dabei spielte sie längst nicht so überzeugend, wie es die drei Vorrunden-Siege vermuten lassen. Der talentierte Oscar war bis auf einen genialen Pass im Eröffnungsspiel kaum zu sehen, Linksverteidiger Marcelo hatte auf seiner Abwehrseite große Probleme, Torhüter Julio Cesar ließ zu viele Weitschüsse prallen, und der Spielaufbau wirkte eher aufgezwungen denn harmonisch.

Auch Angreifer Neymar, der das Turnier nicht nur wegen seiner herrlichen Treffer und Einzelaktionen prägt, nahm sich Auszeiten, nur um danach die Zuschauer mit einem Übersteiger zu begeistern.

Souverän spazierte Spanien durch die Vorrunde, konnte sich den Luxus erlauben, nach einer starken Auftaktstunde gegen Uruguay mehr als zwei Spiele lang seine Kräfte zu schonen. Die Generation um Xavi und Iniesta dominierte die letzten Turniere – wurde zweimal Europa- sowie einmal Weltmeister. Der einzige große Titel, der fehlt, ist tatsächlich der Confederations Cup. Auch deshalb setzt der gelassene Trainer Vicente del Bosque in Brasilien auf seinen stärksten Kader. Der trifft übermorgen auf das etwas durchgerüttelte Italien, das unter Trainer Cesare Prandelli weiter offensiv, aber auch anfällig agiert.

Wie schon beim EM-Finale vor einem Jahr gehen die Italiener angeschlagen in die Partie mit den Spaniern. Andrea Pirlo und Riccardo Montolivo kurieren Verletzungen aus, Ignazio Abate spielt definitiv nicht. Auch der bislang gut aufgelegte Mario Balotelli fällt als Hoffnungsträger für das Halbfinale verletzt aus.

Davon hat Urugay, morgen Halbfinalgegner der Seleção, gleich drei: Das gefürchtete Sturmtrio Edinson Cavani, Diego Forlan und Luis Suarez ist ein wahrlicher Härtetest. Die seit einem Jahrzehnt gewachsene Mannschaft ist erfahren und robust, mit dieser Mischung hatte es Brasilien bei diesem Turnier noch nicht zu tun. Und Uruguay weiß, wie man den Brasilianern Heimspiele vermiest. Die Schmach von 1950, als Alcides Ghiggia mit seinem Treffer kurz vor Schluss des Turniers Uruguay zum Weltmeister machte und das gesamte Maracanã zum Schweigen brachte, ist die wohl tristeste Erinnerung im kollektiven brasilianischen Fußballgedächtnis.

Allein deswegen muss die Vorliebe der brasilianischen Zuschauer für Außenseiter heute der neu gewonnenen alten Liebe weichen – für die Seleção.