Pioniertaten in Zeiten des Kalten Kriegs

TAGUNG In Frankfurt wurde an den vor einem Jahr verstorbenen Philosophen Alfred Schmidt erinnert

Vor knapp einem Jahr starb der Frankfurter Philosoph Alfred Schmidt im Alter von 81 Jahren. Die linke Gewerkschaftszeitung express, die gewerkschaftliche „Akademie der Arbeit“ und die Marx-Gesellschaft organisierten gemeinsam eine Tagung zu seiner Erinnerung. An der „Akademie der Arbeit“ und an der Universität Frankfurt, wo er 1972 Professor für Philosophie und Soziologie wurde, unterrichtete Schmidt über seine Emeritierung hinaus fast 50 Jahre lang.

Die Tagung beschäftigte sich aber leider nicht mit seiner engagierten Lehrtätigkeit, sondern ausschließlich mit Schmidts Bedeutung für eine kritische Neuaneignung der Marx’schen Theorie. Die Gründergeneration der Kritischen Theorie von Max Horkheimer über Theodor W. Adorno bis zu Friedrich Pollock, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse war mit der Marx’schen Theorie vertraut, aber Marx-Experten waren sie alle nicht. In der Nachkriegszeit änderte sich daran nichts.

Schlüsselrolle für die Marx-Rezeption in der BRD

Wenn es im Seminar von Adorno um Fragen der Kritik der politischen Ökonomie ging, soll der Philosoph – Alfred Schmidt zufolge – öfter gesagt haben: „Das Niveau ist hoch, aber keiner drauf, Herr Mohl, übernehmen Sie bitte!“ Der spätere Hannoveraner Professor Ernst-Theodor Mohl war und blieb der gediegenste Marx-Kenner am Frankfurter Institut für Sozialforschung.

1962 änderte sich die Situation insofern, als Mohl mit Alfred Schmidt und dessen Dissertation „Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx“ ein ebenbürtiger Marx-Spezialist an die Seite trat. Schmidts in 18 Sprachen übersetzte Arbeit wurde schnell zum „Klassiker“ und eines jener Dutzend Bücher, die in der Zeit der studentischen Protestbewegung massenhaft gelesen und diskutiert wurden. Schmidts Arbeit verabschiedete den öden Weltanschauungs-Marxismus und orientierte sich an Marx’ Schriften.

Schmidts Beitrag zur Neuaneignung der Marx’schen Theorie beschrieben der Filmemacher David Wittenberg und der Philosoph Helmut Reinicke in ihren beiden Eingangsreferaten. Wittenberg wies daraufhin, dass Schmidt französische Theoretiker wie Henri Lefèbvre und Roger Garaudy, aber auch den mit dem Marxismus kokettierenden Jean-Paul Sartre in Deutschland bekannt machte. Außerdem vermittelte er die Rezeption der materialistischen Philosophie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Solche Pioniertaten waren mitten im Kalten Krieg alles andere als karrierefördernd. Schmidt hatte auch keine Bedenken, in der Neuen Kritik, einem dem SDS nahestehenden Theorieblatt, zu schreiben und in der libertär-linken Frankfurter Studentenzeitung Diskus.

Helmut Reinicke zeichnete den Gang der Marx-Rezeption in der BRD präzise nach. Eine Schlüsselfunktion hatte dabei Schmidts Dissertation, die nicht nur Marx’ Frühschriften interpretierte, sondern erstmals auch die „Grundrisse“, den „Rohentwurf“ zum „Kapital“. Dieser „Rohentwurf“ erschien erstmals 1939 in Moskau und 1953 in Ostberlin. Die Herausgabe dieses Entwurfs bildet eine der wichtigsten Leistungen der Marx-Philologie bis zum Beginn der zweiten Marx-Engels-Gesamtausgabe in der DDR (1972).

Nadja Rakowitz, Jürgen Behre und Christoph Görg referierten in ihren Beiträgen über Schmidts Beitrag zum Thema „Natur und Gesellschaft“ beziehungsweise zur gesellschaftlich-historischen Formierung der Naturverhältnisse und damit deren politisch-herrschaftliche Durchdringung. Nadja Rakowitz wie insbesondere Christoph Görg warnten davor, Natur in Gesellschaft aufgehen zu lassen, und bestanden auf der Eigengesetzlichkeit der Natur wie auf der Krisenhaftigkeit des gesellschaftlichen Stoffwechsels mit der Natur – jenseits von Klima-Alarmismus und Romantisierung der Natur.

Abschließend boten Hans-Georg Backhaus, der Doyen der Marx’schen Wertform- und Geldanalyse, und Hermann Kocyba, ein kritischer Schüler Alfred Schmidts, eine muntere Debatte darüber, was Kritik heute bedeutet und was sie zu leisten vermag. Während Backhaus einer gleichsam linientreuen Fortschreibung der Marx’schen Kritik das Wort redete, verwies Kocyba darauf, dass die Vertreter der Kritischen Theorie immer ein Clan ohne unité de doctrine waren: Das theoretische Fundament der Kritik und deren Reichweite blieben immer offen.

RUDOLF WALTHER