kritik der woche
: Mit irrationaler Kraft

Wenn wir sterben, sehen wir unseren Lebensfilm. Das berichten Menschen, die dem Tod nahe waren. Regisseur Claus Guth inszeniert Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ genau so: als Rückblick des Titelhelden im Augenblick des Todes. Damit hat Guth einen genialen Schlüssel zu der verworrenen Opernhandlung gefunden – und beschert der Staatsoper Hamburg eine faszinierende Neuinszenierung.

Noch bevor die Musik anhebt, sehen wir Boccanegra am Boden liegen. Eine Menschenmenge umringt den sterbenden Dogen. Die Oper beginnt, und die Flut der Erinnerungen erlebt Simon als Handelnder, aber immer wieder auch als Zuschauer. In diesen Momenten treten stumme Doubles an die Stelle von Simon-Sänger Franz Grundheber. Außerdem hat Ausstatter Christian Schmidt eine zweite Spiel- und Zeit-Ebene geschaffen: An der Wand hängt ein riesiger goldener Rahmen. Wie in einem Spiegel sieht man darin Erinnerungen, Gedanken und Schlüssel- Szenen. So subtil und schlüssig aus der Musik entwickelt, erschließen sich die psychologischen Dimensionen der Geschichte um Macht, Liebe, Hass und Vergebung. Einer der berührendsten Momente: Der Plebejer Boccanegra wird als neu gewählter Doge bejubelt. Für ihn zugleich ein Moment der Vernichtung, denn in den Armen hält er seine tote Geliebte Maria. Die Adelige hat Selbstmord begangen, weil sie nichts wusste von der bevorstehenden Wahl; als Doge wäre Simon ein standesgemäßer Partner gewesen. Im Stück wird Maria nur erwähnt, Claus Guth lässt sie auftreten. Auch später geistert sie durch die Szenerie, als Simon der gemeinsamen Tochter wiederbegegnet.

Für Guth ist Oper heute ein „letztes Refugium des Irrationalen“. Und er hat den Mut, diese irrationale Kraft des Musiktheaters zu entfesseln. Seine bildmächtige Deutung entwickelt eine Sogkraft, der man sich als Zuschauer kaum entziehen kann. Zumal Simone Young am Pult der Philharmoniker Hamburg Verdis Musik glühen lässt: Zupackend und präzise gestalten die Musiker die dramatischen Siedepunkte, geschmeidig und expressiv die leisen Stellen. Das Ensemble überzeugt, herausragend: Franz Grundheber in der Titelrolle. Schon vor der Premiere munkelte man, Guth werde noch häufiger in Hamburg inszenieren. Diese Verdi- Neuproduktion wäre jedenfalls ein gelungener Auftakt für eine schulemachende Zusammenarbeit zwischen Regisseur und Dirigentin. Dagmar Penzlin

Simon Boccanegra, Staatsoper Hamburg, Vorstellungen: 16., 22., 25. 2, jeweils 19.30 Uhr, 19.2., 16 Uhr