durch katrins brille
: Alice im Wunderland

Er kenne, hatte der Wiener gesagt, ein dekadentes Platzerl. Fußläufig drei Minuten vom Potsdamer Platz, perfekt für eine kleine Auszeit von den Filmfestspielen und eine kurze Melange. Man trifft sich, der Wiener sagt: „Das dekadente Platzerl ist in den Fängen der Berlinale.“ Es hätte schon ein Baumhaus sein müssen, ohne Sitzkissen – jede andere Lokalität fußläufig der Berlinale Kinos, sogar das Billy Wilder’s, ist in diesen Tagen gnadenlos überbucht.

Im Billy Wilder’s sitzt man an der Theke und reibt die Schultern aneinander. Plötzlich wird das Licht heruntergedimmt, bis es drinnen so dunkel ist wie draußen. Dunkelheit ist der Schlüssel zum Geheimnis, muss es dem Billy-Wilder’s-Besitzer in diesem Moment durch den Kopf gejagt sein: Diese Filmleute, in dunklen Sälen hasten sie dem Geheimnis nach, jetzt wollen sie es hier weiterspinnen – also nach unten mit den Lichtverhältnissen! Jeder soll seinen Tischnachbarn nur als vagen Schatten sehen, so schafft man Projektionsflächen, so macht man Liebesverhältnisse, Dunkelheit rules the world.

Die Passage sollte die innere Verfasstheit des Berlinale-Besuchers abbilden. Mit ihm ist es so: Er ist zermürbt. Dutzende Plots haben sich zu einer verwirrenden inneren Handlungsfolge verwoben, und während er von Film zu Film hastet, ist er nur um eines bemüht: sich selbst nicht abhanden zu kommen. Die Begegnung mit den anderen, die er ohnehin längst nicht mehr erkennt, hat er auf eine zugerufene Standardformel reduziert. Man muss sich die Berlinale als Ort der Versöhnung vorstellen. Hier werden jahrzehntelange Fehden beendet, eisiges Schweigen gebrochen, Schultern geklopft, quasi absichtslos, im Vorübergehen. „Hey, so great to see you!“ Hat man den verhassten Produzenten wirklich umarmt? Oder sich selbst in Bildern eine Geschichte erzählt? Ganz eindrucksvoll verwoben sind Traum und Wachsein in Michel Gondrys Film „The Science of Sleep“. Bunter wird die Welt im Schlaf, beim Träumen, und mit Hilfe von Comic-Animationen auch sehr viel lustiger. Und die zauberhafte Nase des Hauptdarstellers Gaël Garcia Bernal! Bald sind von links tiefe, gleichmäßige Atemzüge zu hören. Der belgische Kollege, kaum angereist, ist eingeschlafen.

Wenn Alice Schwarzer am Einlass des China Clubs steht und sich im nachtkühlen Berliner Februar mit Warten ein wenig die Zeit vertreibt – ist auch das eine Parallelwelt? Sie ist von Oskar Roehler eingeladen, steht aber nicht auf der Liste, folglich ist kein Durchkommen zur Premierenfeier. Irgendwann geht sie entschlossen am Türsteher vorbei – lächerlich, die Sache – und gerade ist der Mantel abgegeben, da steht die Rezeptionsdame erneut vor ihr: „Frau Schwarzer, es ist ganz ausgeschlossen.“

Ist das die Generation, die Alice Schwarzer nicht mehr kennt? Easy come, easy go, und schon ist er da, der Postfeminismus. Meine Generation hat ja eher von Alice Schwarzer profitiert. Und auch an diesem Abend ging man, von der Courage beflügelt und ganz dieser hübschen inneren Logik gemäß, einfach auch hinein. Für das eine und für das andere: an Alice Schwarzer vielen Dank.

KATRIN KRUSE