durch katrins brille
: Der Berlinale nackter Kern

Die Berlinale habe, so hieß es über die letztjährige, ein übergreifendes Thema gehabt: Männer, die im Freien pinkeln. In diesem Jahr interessieren Männer, die im Freien pinkeln, bereits niemanden mehr. Was für ein absonderlicher Fokus!, sagt man sich heute und belächelt das Ich, das man im letzten Jahr noch gewesen ist. Was einen umtrieb! Aber so ist es mit den Themen, sie kommen und gehen – und schon ist von einer neuen Tendenz die Rede. Die Schauspieler, ist zu lesen, verzichteten in den Beiträgen dieser Berlinale zunehmend auf Mimik. Zitat: „Der Trend geht zur Gesichtsstarre“.

Botox? Vielleicht. Erst will man nicht runzeln, dann kann man nicht mehr, und irgendwann ist vergessen, dass sich so ein Gesicht überhaupt bewegen kann. Aber warum gilt das auch für Christian Ulmen, der Wissenschaftlerbruder in „Elementarteilchen“?

Obschon – gerade die Altersfrage löst in diesem Film immer wieder eine gewisse Irritation aus. Im Buch zwei Brüder, die mit kalten Herzen in die Senke der zweiten Lebenshälfte gefallen sind, in der Verfilmung zwei Brüder mit Gesichtern von spätadoleszentem Schmelz. Als die libertinäre Erzeugerin, verkörpert von Nina Hoss, als – maskentechnisch gesprochen – Sechundsiebzigjährige in einer spinnwebernden Hippiekommune stirbt, stehen ihre Söhne wie Oberprimaner daneben. Von den pubertierenden Rückblendendouble trennen sie, im Film sind zwanzig Jahr vergangen, kaum drei Sommer. Warum Ulmens Gesicht quasi den ganzen Film über so unbeweglich bleibt, darauf gibt er im Pressegespräch eine Antwort. Sie heißt Michael. Oder war es: Christian? Wie lange halte ich die Hand des anderen, wenn er mir seine entgegenstreckt? Dergleichen habe sich der ehemalige Klassenkamerad gefragt, sagte Ulmen. Ein perfektes Role Model also für die Figur des gefühlsarmen Wissenschaftlers. Wen solche Fragen umtreiben, der hat für mimische Belange keine Kapazitäten mehr.

Ein unbewegtes Schauspielergesicht, ebenso wie lange Einstellungen und irre langsame Schwenks, erlauben einem als Zuschauer ja das, was Walter Benjamin im Film für unmöglich hielt – die kontemplative Versenkung. Man wandelt quasi freien Geistes in den Filmbildern herum, anstatt schnellen Schritts dem erzählten Geschehen zu folgen. Kontemplation gegen Taktilität, das entspricht etwa dem Verhältnis des iranischen Wettbewerbsbeitrags „Zemestan“ zu Chen Kaiges „Wuji“.

In dem einen zieht die karge Industrielandschaft, schneeüberzogen, immer wieder langsam vorbei – die Gleise, das betongraue Haus mit dem Flachdach. Wenig mimische Aufgeregtheit ist zu sehen, also: ganz im Trend. „Wuji“ hingegen stößt einem zu, vor allem dem, der in der zweiten Reihe sitzt. Er fällt im Canyon in die Schlucht, eine Herde von langhörnigen Büffeln hetzt ihn im Kreis. Dafür wird er vom koreanischen Hauptdarsteller auch geküsst, gerettet und durch die Luft gehoben. Das ist taktile Qualität, die nicht folgenlos bleibt: Links beginnen die Augen zu glänzen.

Berlinale-Palast gegen Phaeton Lounge, Film gegen Champagner – die großen Tendenzen dieser Berlinale finden sich ohnehin im Dazwischen. Beige sind die Festivaltaschen, beige sind die Vorhänge des Drehbuchschreibers von „Elementarteilchen“, und beige ist auch die Auskleidung des Phaeton, der einen aus der Lounge des Grauens wieder nach Hause bringt. So fügen sich in der nächtlichen Fahrt die Zeichen zum untrüglichen Bild: Beige, das ist: nude, also: nackt, entblößt, also: unverstellt. Die Berlinale hat kein starres, sondern ein unverstelltes, ein ehrliches Gesicht. Die diesjährige Berlinale ist nichts als die diesjährige Berlinale. Cheers! KATRIN KRUSE