Marokkos Jugend will das Kopftuch

Laut einer Umfrage möchten junge Männer und Frauen am liebsten nach Europa emigrieren. Gleichzeitig verteidigen sie traditionelle Werte und hegen Sympathien für al-Qaida. Dafür werden auch Satellitensender verantwortlich gemacht

VON REINER WANDLER

Die marokkanischen Jugendlichen wissen offenbar nicht, wo ihnen der Kopf steht. Zum einen wollen sie um jeden Preis nach Europa auswandern. Zum anderen lehnen sie die westliche Welt ab und sind mehr denn je in den traditionellen Werten ihres Landes verankert. Diese ergibt eine Umfrage der Wirtschaftszeitung L'Economiste.

Über 60 Prozent der befragten Jugendlichen zwischen 16 und 29 Jahren sehen ihre Zukunft in der Emigration. Am meisten fühlen sie sich zu Europa hingezogen. Der alte Kontinent rangiert in der Beliebtheit weit vor den USA und noch weiter vor anderen arabischen Staaten. Doch während die Vätergeneration der heutigen Jugendlichen in Europa neben Arbeit auch ein Leben fernab von der sozialen und politischen Enge ihres von Religion und Tradition bestimmten Landes suchten, verteidigt die heutige Jugend genau diese Werte. Die Befragten, die sich zuerst als Muslime und erst danach als Marokkaner sehen, geben zu 99 Prozent an, den Fastenmonat Ramadan zu befolgen. 70 Prozent beten regelmäßig, über die Hälfte geht hin und wieder in die Moschee und liest den Koran. 73 Prozent der Befragten können sich nur eine Muslimin oder einen Muslim als Ehepartner vorstellen. 57 Prozent verteidigen das Kopftuchgebot für Frauen. 49 Prozent der jungen Männer würden nie eine Frau heiraten, die kein Kopftuch trägt.

Diese konservativen Haltungen zeigen Besorgnis erregende Folgen, wenn es um die politische Einstellung geht. Jeder Dritte will, „dass die Religion den politischen Parteien als Richtlinie dient“. Und zu Ussama Bin Ladens al-Qaida befragt, geben 44 Prozent an, es handle sich dabei „um keine terroristische Organisation“. Unter den jungen Männern sind es gar 50 Prozent. Nur 19 Prozent verurteilen al-Qaida klar. Der Rest gibt an, nicht zu wissen, wie die Organisation einzuschätzen sei.

Das Ergebnis ist noch erschreckender, wenn die Antworten nach Bildung und Einkommen aufgeschlüsselt werden. „Je ärmer die Leute sind, desto mehr gefällt ihnen al-Qaida“, schreibt L'Economiste. Wenn wundert es da, dass die Hintermänner der Anschläge auf westliche und jüdische Einrichtungen in Casablanca im Mai 2003 nur wenige Monate brauchten, um ein Dutzend Selbstmordattentäter zu rekrutieren?

Die Umfrageergebnisse lassen Politiker und Beobachter in Marokko aufhorchen. Schließlich stellt die Altersgruppe der 16 bis 29-Jährigen knapp ein Drittel der Bevölkerung. Viele Kommentatoren suchen den Grund für die Radikalisierung der Jugend in der kriegerischen Haltung des Westens gegenüber der arabischen Welt. So verurteilen 76 Prozent der marokkanischen Jugendlichen die US-Intervention im Irak. Die Verteidigung der Religion und Sympathien für al-Qaida seien die Folge.

Doch nicht nur. „Es gibt auch objektive Gründe dafür, die in der Erziehung und den Medien zu suchen sind“, schreibt die den Kommunisten nahe stehende Tageszeitung Al Bayane. In der Schule werde ein „falsch verstandener Islam“ vermittelt, viele Lehrer seien von radikalen, salafistischen Ideen geprägt. „Außerdem machen die Massenmedien, allen voran Satellitensender wie al-Dschasira und al-Arabija Propaganda für die salafistische Ideologie und deren heiligen Krieg.“ Die marokkanischen Sender würden dem nichts entgegensetzen. Der Soziologe Jamal Khalil von der Universität Hassan II. in Casablanca sieht das ähnlich. „Die Ansichten der Jugendlichen sind das Ergebnis der arabischen Fernsehsender, die Schule oder demokratische Debatten haben nur wenig Einfluss“, meint er.