„Unter Generalverdacht“

Um Gewalttaten zu verhindern, soll die Reeperbahn ab Ende März flächendeckend durch Kameras überwacht werden. Experten sind skeptisch und warnen vor Einschränkung der Grundrechte

von Andrea Kretschmann

Gähnen. Aufstehen. Anziehen. Der Griff zum Schlüsselbund und raus auf die Straße. Der Bäcker ist nur 30 Meter weit entfernt. Ein Morgengruß zur Kamera, die sich von schräg gegenüber auf mich richtet. Winken. Lächeln. Ist das Hemd auch akkurat geknöpft? Hoffentlich sitzt nicht der Gleiche vor dem Bildschirm, der gestern meinen Vollrausch beobachtet hat.

So ähnlich könnte demnächst der Alltag auf der Reeperbahn aussehen. Denn ab Ende März plant der Hamburger Senat deren flächendeckende Kameraüberwachung durch die Polizei zur präventiven Bekämpfung von Gewaltkriminalität. An zwölf Standorten zwischen Nobis- und Millerntor kann dann rund um die Uhr jeder Winkel gefilmt werden, Schwenk- und Zoomfunktionen beseitigen letzte Unklarheiten auch auf Spielbuden- und Hansaplatz.

Erste Überwachung eines gesamten Straßenzugs

Möglich wird die lückenlose Dokumentation durch das neue Hamburger Polizeigesetz, das Videoüberwachung an so genannten Kriminalitätsschwerpunkten im öffentlichen Raum erlaubt. Neben der allgemeinen Verkehrsüberwachung durch Kameras ist die Reeperbahn dann der erste öffentliche Ort, der von der Polizei „präventiv“ eingesehen werden kann, und vor allem ist es die erste Überwachung eines gesamten Straßenzugs, Amüsierwillige und Bewohner inklusive. Spätestens bis zur WM 2006 soll die Konsummeile auf St. Pauli für ihre Besucher sicher sein.

Innensenator Udo Nagel verspricht sich davon einen „Sicherheitsgewinn für Hamburgs Bürger und die Besucher“, denn momentan diagnostiziert er der „Visitenkarte Hamburgs“ noch „die mit Abstand höchste Deliktbelastung“. Vor allem Gewalttaten, häufig in Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenkonsum, glaubt Nagel durch die Kameraüberwachung verhindern zu können.

Stefan Czerwinski, Kriminologe und Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Videoüberwachung und räumliche Wahrnehmung“ an der Universität Hamburg, sieht das anders. Zur Prävention sei die „großflächige Überwachung mittels Kameras, wie es auf der Reeperbahn geplant ist“, nicht geeignet, allein schon deshalb, weil eine Kamera kaum in der Lage ist, die für die Reeperbahn typischen Affekttaten zu verhindern. „Und geplante kriminelle Aktivitäten“, prognostiziert er, „werden sich dann von der Reeperbahn in die Seitenstraßen verlagern.“

Die Einzelheiten werden derzeit noch mit Hamburgs Datenschutzbeauftragtem Hartmut Lubomierski ausgehandelt. Bekannt ist bislang, dass die Liveübertragungen ins Alsterdorfer Polizeipräsidium ständig von Polizisten angesehen werden. „In ausgewählten Fällen schalten die das dann zur Davidwache rüber“, so der Sprecher der Innenbehörde, Reinhard Fallak, „zum Beispiel, wenn sich auf der Reeperbahn Fußballfans zusammenrotten.“ Die Aufzeichnungen sollen bis zu einem Monat lang aufbewahrt werden.

Fraglich ist immer noch, wie das Verdecken der von der Überwachung ausgenommenen Wohn- und Bürobereiche, der so genannten „private zones“, technisch gewährleistet werden kann, und ob im Fall von Kriminalität in diesen Bereichen die Ausblendung zeitweilig sogar wegfallen darf. Dass die Überwachung stattfindet, darauf wird künftig an allen Zuwegen zur Reeperbahn mehrsprachig hingewiesen. Für die Überprüfung des polizeilichen Umgangs mit dem Videomaterial ist dann die Innenbehörde zuständig. „Das ist ebenfalls bedenklich“, sagt Czerwinski, „dass es keine Kontrolle von außen gibt.“

„Datenschutzrechtlich sehe ich keine Probleme“

Datenschützer Lubomierski mahnt zwar die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme an. „Datenschutzrechtlich sehe ich aber keine Probleme“, sagt er, „weil es sich bei der Reeperbahn um einen Kriminalitätsschwerpunkt handelt.“ Dass allerdings nach polizeilicher Definition Orte schon dann Kriminalitätsschwerpunkte sind, wenn dort in einem gewissen Zeitraum mehr als zwei Straftaten begangen wurden und voraussichtlich auch weiter begangen werden, greift für ihn zu früh. Auch Czerwinski bemängelt, dass man so „letztlich alles als Kriminalitätsschwerpunkt definieren kann“.

In jedem Fall bringe die Überwachung auf Schritt und Tritt eine massive Einschränkung von Grundrechten mit sich. Zumal mit der „präventiven“ Observation die Unschuldsvermutung umgekehrt wird. „Menschen werden unter Generalverdacht gestellt. Das verletzt ihre Rechte“, sagt Czerwinski.

Nach dem Motto: „Wer nichts zu verbergen hat, der hat auch nichts zu befürchten“, tun sich die Hamburger schwer, Protest gegen die Maßnahmen einzulegen. „Schaden kann‘s nicht“, sagt beispielsweise Anwohnerin Anne Grothe (Namen geändert). Und auch Ralf Musäus, ebenfalls Reeperbahn-Bewohner, „stört‘s nicht weiter. Aber klar, wenn da ‘ne Kamera hängt, popel ich doch nicht in der Nase!“

Am 2. März um 19.30 Uhr veranstaltet das „Bündnis für tote Winkel“ im Kölibri, Hein-Köllisch-Platz 12, einen Abend zum Thema Reeperbahn-TV: „Videologie in der ängstlichen Stadt“