Russlands deutsche Freunde

Die Städtepartnerschaft zwischen Erlangen und Wladimir, rund 180 Kilometer östlich von Moskau, währt bereits über zwanzig Jahre. Eine Kläranlage, Kunst im Stadtbild sowie zwanzig binationale Ehen zeugen von einer intensiven Begegnung

von BARBARA KERNECK

„Ich komme aus Kristallgans!“, sagt Julia bedeutungsvoll. Ihre Pupillen schimmern verletzlich hellblau. Die Zwanzigjährige wendet sich im Werkraum des Psychiatrischen Krankenhauses der russischen Stadt Wladimir ihrer Mitpatientin Tatjana zu. Die ist eine burschikose Frau Ende 20 und beknetet schwungvoll eine Vase. Tatjana gilt hier als Virtuosin. Der Ton schmilzt unter ihren Händen wie von Zauberhand. „Gus Chrustalnyj“, zu Deutsch „Kristallgans“, ist Julias und Tatjanas Heimat. Das Städtchen bei Wladimir wurde vor zweihundert Jahren zum Sitz einer Glas- und Kristallmanufaktur, daher der Name.

„Julia hat Heimweh, sie wird bald entlassen“, schmunzelt Alexander Bersenjew, Direktor des Krankenhauses, und klappert betulich mit Teetassen. Der Mittfünfziger legt großen Wert darauf, dass hier niemand „weggeschlossen“ wird. Die durchschnittliche Verweildauer der PatientInnen betrage 55 Tage, sagt er. Sie habe sich wesentlich verkürzt, seit Bersenjew Kontakte mit den Barmherzigen Brüdern in Gremsdorf pflegt.

Die Zusammenarbeit kam über Wladimirs Partnerstadt Erlangen zustande. Seither wurden die Wände der Klinikpavillons pastellfarben gestrichen, hängen dort von den Patienten gemalte Bilder. Auch der Werkraum ist eine Frucht dieser Kooperation. Tatjana, mit der Diagnose Schizophrenie, braucht kaum mehr Medikamente, seit sie töpfert. „An eine Kunsttherapie konnten wir hier früher gar nicht denken“, sagt Bersenjew.

Eigentlich hätte er sich mit seiner Anstalt gar nicht an der Städtepartnerschaft beteiligen dürfen, denn dieses Krankenhaus ist nicht städtisch, sondern staatlich. Doch wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Die Städtepartnerschaft zwischen Erlangen (103.000 Einwohner) und dem 180 Kilometer östlich von Moskau gelegenen Wladimir (400.000 Einwohner) blüht schon über zwanzig Jahre. 1983 vereinbarten die beiden Städte eine „Verlobungszeit“. Diese wurde 1987 in einen Partnerschaftsvertrag umgewandelt. Und der Ehebund hält noch heute.

Wladimir ist nicht immer Provinz gewesen. Von 1157 bis Mitte des 14. Jahrhunderts war hier Russlands Hauptstadt. Mit der mittelalterlichen Kathedralen und den Festungsbauten bildete Wladimir zur Sowjetzeit schon eine Touristenattraktion. Anders als seine dreißig Kilometer entfernte Zwillingsstadt Susdal ging es mit der Zeit, wurde Sitz einer Traktorenfabrik und eines berüchtigten Gefängnisses.

Die Partnerschaft traf beiderorts auf viele Gegner. Die damals oppositionelle CSU-Fraktion im Erlanger Stadtrat bezeichnete sie als „Missgriff“. Vor allem wegen des Gefängnisses, in dem noch Sowjetdissidenten einsaßen. Doch die Erlanger Volkshochschule, die Jugendverbände, Sport- und Kulturvereine fingen Feuer. Ein über Jahre hinweg unbändiges deutsch-russisches Singen, Dichten, Theaterspielen, Turnen und Stadtfestefeiern begann. Erlanger Künstler schufen Plastiken in der Partnerstadt.

Beklommen machten sich sogar TeilnehmerInnen des Zweiten Weltkrieges aus beiden Städten zueinander auf den Weg. Die letzten gegenseitigen Vorbehalte unter ihnen fielen 2001. Da präsentierte der Baiersdorfer Fritz Wittmann das Buch „Rose für Tamara“, ein Band mit den erstaunlich rührenden Erinnerungen deutscher Kriegsgefangener an die Gefangenschaft in Lagern um Wladimir.

Dass diese Anstrengungen so permanent von Erfolg gekrönt sind, dahinter steckt auf deutscher Seite Peter Steger. Der damalige Slawistikstudent ließ sich 1987 für die Wladimirer Kultur- und Sporttage in Erlangen als Dolmetscher anheuern. In den Wendejahren half er immer wieder im Kulturaustausch aus. Bis schließlich 1991 eine Planstelle als Sonderbeauftragter für Städtepartnerschaften für ihn geschaffen wurde. Als Erlangen im Jahre 2002 aus der Hand von Bundespräsident Johannes Rau den vom Deutsch-Russischen Forum gestifteten „Förderpreis für bürgerschaftliches Engagement in Russland“ erhielt, schickten die Stadtväter Steger aufs Podium.

Nichts schmiedet Menschen so zusammen wie eine gemeinsam durchlittene Notsituation. Die trat im Leben der Städte Erlangen und Wladimir Anfang der 1990er-Jahre ein. Als die UdSSR zusammenbrach und mit ihr ihr innerer Markt. Als die BewohnerInnen von Kristallgans ihre Gehälter in Form von Vasen und Lüstern ausgezahlt bekamen und an der Straße nach Moskau saßen, um die irgendwie zu verkaufen. Als Alexander Bersenjews PatientInnen vor lauter Kälte nur noch in ihren Betten lagen. Sobald er die Tür zu einem der Krankenzimmer öffnete, schrien sie: „Geben Sie uns zu essen, wir haben Hunger!“ Erlanger kehrten mit Hiobsbotschaften aus Wladimir zurück: Unsere Freunde hungern und frieren!

Ausgerechnet die CSU-Fraktion im Stadtrat schlug vor, das eigentlich für Bürgerreisen nach Wladimir bestimmte Geld lieber direkt dorthin zu schicken. Konvois mit Lebensmitteln, medizinischem Gerät, Medikamenten und Kleidung wurden auf den Weg gebracht. Auch auf der anderen Seite sprangen viele über ihren Schatten. Bersenjew entwickelte den Mut eines Löwen, griff zum Telefonhörer und rief bei den Erlangern an. Nicht nur die Vorgesetzten hatte er gegen sich. „Als ich meinen Mitarbeitern erzählte: In einer Woche kommt eine deutsche Delegation, erstarrten sie vor Entsetzen“, erzählt er: „Am meisten aber erschraken sich die Patienten.“

Seit 1995 gibt es das hölzerne „Erlangen Haus“, ein kleines Erlangener Territorium auf Wladimirer Gebiet. „Außen russisch, innen deutsch“, titelte eine örtliche Zeitung. Hier können Wladimirer Informationen über Deutschland erhalten und die Grundstufenprüfung des Goethe-Instituts ablegen. Ein anderes Bauwerk, das „Kesselhaus Erlangen“, versorgt 1.500 Wohnungen in Wladimir mit ausreichend Wärme. 38 Nahverkehrsbusse aus Erlangen prägen das Straßenbild. Dank der Zusammenarbeit mit der Partnerstadt gehört das Wladimirer Klärwerk zu den besten russlandweit.

All diese Investitionen funktionieren nur dank russischer Finanzbeteiligung und russischem Arbeitseinsatz. Um die Kooperationen zwischen Erlanger und Wladimirer Privatfirmen aufzuzählen, reichen zwei Hände nicht mehr aus. So werden zum Beispiel in Mittelrussland jetzt hölzerne Bierzeltgarnituren für Mittelfranken hergestellt.

„In Wladimir habe ich zum ersten Mal begriffen, was das bedeutet: Frühling“, sagt Jürgen Schellenberg. Seine Frau, die Elektroingenieurin Irina, hat er während eines Austauschaufenthalts als Deutschdozent an der Wladimirer Pädagogischen Universität in einem eisigen Winter kennen gelernt. Heute führen sie eine von zwanzig Ehen, die aus der Städtepartnerschaft entstanden sind, und leben mit Sohn und Tochter in Wladimir. Der hochgewachsene Mann mit dem kleinen Schnurrbärtchen ist hier in seiner Eigenschaft als Muttersprachler konkurrenzlos als Deutschdozent und Dolmetscher. „Meine Exkommilitonen halten mich alle für verrückt, weil ich in die russische Provinz gegangen bin“, sagt er, „aber alles läuft auf die menschlichen Beziehungen hinaus. Wenn du es nicht schaffst, einen persönlichen Kontakt zu ihnen aufzubauen, können dich russische Geschäftsleute zum Beispiel gnadenlos übers Ohr hauen. Aber wenn man sich um die Menschen kümmert, gehört man dazu. Mich stört es nicht, dass hier ein wenig weniger Ordnung herrscht. Dass es im Treppenhaus meiner Freunde nach Katzenpisse riecht und die Briefkästen kaputt sind. Denn wenn meine Bekannten hier mich fragen: ‚Wie geht’s?‘, dann erwarten sie eine ganz konkrete Antwort. Hier weiß ich in jeder Lebenslage genau, an wen ich mich wenden kann.“