Annäherung als ernstes Spiel

FOTOGRAFIE Dokumentarische Strategien, ohne mit den Bildern dazu gleich eine Geschichte zu erzählen – mit „Jenny Jenny“ präsentiert die Berlinische Galerie das neue Projekt des Fotografen Tobias Zielony

■ Der 1973 in Wuppertal geborene und in Berlin lebende Tobias Zielony ist bekannt für seine fotografischen Dokumentationen jugendlicher Randgruppen in unterschiedlichen Ländern. Er studierte Dokumentarfotografie an der University of Wales in Newport und in Leipzig.

■ In der Zielony-Ausstellung in der Berlinischen Galerie wird neben seinem neuesten Projekt, „Jenny Jenny“, das auch zwei fotografische Animationsfilme umfasst, noch die Serie „Trona“ (2008) über Jugendliche aus der gleichnamigen Wüstenstadt unweit von Los Angeles präsentiert. Zur Ausstellung gibt es ein Einführungsvideo in deutscher Gebärdensprache. Ausstellung bis 30. September, Mittwoch bis Montag 10 bis 18 Uhr, Alte Jakobstraße 124–128.

VON MATHIAS KÖNIGSCHULTE

Tobias Zielony hat die Geschichte oft erzählt. Wie er als Student der Fotografie einem Bildredakteur des britischen Guardian Bilder aus einer Arbeit über den Alltag Jugendlicher in einem walisischen Vorort vorlegte und dieser mit Anerkennung reagierte und gleichzeitig auch mit Unverständnis fragte: „Where’s the story?“ Ohne eine Geschichte lassen sich im Mediengeschäft Erfahrungen wohl weder vermitteln, noch lassen sie sich offensichtlich verwerten.

Nun ist die Wirklichkeit bestenfalls eine Sammlung von Erfahrungen, aber keine Geschichte. Die Reaktion des Guardian-Redakteurs forderte Zielony heraus, sich mit der grundlegenden Frage auseinanderzusetzen, wie er mit den Mitteln der Dokumentarfotografie von der Wirklichkeit erzählen kann, ohne sie gleich zu fiktionalisieren und in eine „story“ zu zwängen.

Wie problematisch das Verhältnis von sozialer Realität und ihrer Fiktionalisierung sein kann, zeigte sich in der Rezeption der 1978 als Geschichte in Buchform veröffentlichten und später auch verfilmten Stern-Reportage „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Die Beschreibung der Berliner Drogen- und Stricherszene um Christiane F. und ihrer Clique verführte viele junge LeserInnen gerade dazu, sich mit der gleichaltrigen Heldin zu identifizieren. Was dann eben nicht immer die vorgeblich intendierte präventive Wirkung der Stern-Geschichte hatte. Die soziale Realität in der damaligen Mauerstadt Westberlin, die hier beschrieben wurde, blieb nicht frei von den Projektionen und Sehnsüchten der LeserInnen.

Journalistische Darstellungsformen wie diese verkaufen die Illusion, ihrem Gegenstand näher zu sein, als sie es sind. Das gilt oft und gerade auch für die Arbeit versierter Fotoreporter, die, um ein jüngeres Beispiel zu nennen, etwa mit geradezu atemberaubenden Actionszenen vom Kampf syrischer Rebellen in den Trümmern Aleppos auftrumpfen: Nichts unterscheidet diese Bilder mehr von den Filmstills eines aufwendig produzierten Blockbusters.

Orte, an denen andere dokumentarische Strategien in der Fotografie erprobt werden, sind heute nicht unbedingt die großen Printmedien, sondern vor allem die Museen. Auch vor diesem Hintergrund lohnt es sich, Tobias Zielonys neue Arbeit, „Jenny Jenny“, die derzeit in der Berlinischen Galerie gezeigt wird, genauer zu betrachten.

Der Kontext der Arbeit ist die Arbeit selbst

Die Bilder zeigen junge Frauen, mit denen Zielony sich innerhalb eines Zeitraums von beinahe zwei Jahren immer wieder traf und die er im dämmrigen Licht auf den Straßen Berlins oder im kalten Neonlicht in karg eingerichteten Räumen fotografierte. Einige der Frauen der „Jenny Jenny“-Serie scheinen sich auf dem Straßenstrich zu prostituieren, andere entziehen sich den Versuchen, ihnen eine Rolle zuzuschreiben.

„Der Kontext der Arbeit ist die Arbeit selbst“, sagt Zielony. Will man mehr über die abgebildeten Personen erfahren, als auf den Bildern zu sehen ist, verweigert er die Auskunft. Darin liegt eine Provokation: Es nötigt dazu, sich einmal zu fragen, was den eigenen Blick eigentlich formt. Das Bild eines nicht genauer lokalisierten Betonbaus („Absteige“), eines halb entkleideten und in rotes Licht getauchten Körpers („Sex“), eines entblößten und angespannten Unterarms („Heroin“): Hier beginnt ein Film, aus dem man allerdings gleich wieder herausgeschmissen wird, sobald man das nächste Bild betrachtet. Zielony spielt mit den medialen Bildern und Referenzen, die wir abrufen, um zu dechiffrieren, was hier gezeigt wird. Wir glauben, den Film zu kennen, doch die Frauen gehen in den Rollen nicht auf, die wir ihnen gern zuschreiben würden.

Das eben unterscheidet Zielonys dokumentarische Strategie von der einer Reportage: Der Fotograf produziert keine Opfer. Seine Bilder geben nicht vor, anders entstanden zu sein als in einem teils bewusst, teils unbewusst geleiteten Zusammenspiel des Fotografen mit denen, die er fotografiert. Wenn die Frauen seinem Blick begegnen, ihm ausweichen oder ihn auf Verletzungen freigeben, ihr Bild mit abwehrenden oder Begehren weckenden Posen mit entwerfen, werden sie selbst zu Akteurinnen. Die gegenseitige Annäherung des Fotografen und der Frauen vor seiner Kamera ist ein ernstes und spannungsreiches Spiel. Nicht die schonungslose Nähe, die die Frauen zu gewähren scheinen, indem sie sich vor der Kamera entblößen, schockiert am Ende, sondern die unüberwindbare Distanz, die zu ihnen trotzdem bestehen bleibt.

Mathias Königschulte ist Bildredakteur der taz