Fast eine Liebeserklärung

Jede Falte im Gesicht: Pablo Traperos, der ein unprätentiöses und sozialkritisches Kino in Argentinien mitbegründet hat, kommt mit „Familia Rodante“ beim Roadmovie und seiner Großmutter an

Als 1999 ein trauriger Kranfahrer auf Arbeitssuche durch die schwarzweißen, körnigen Bilder von Pablo Traperos veristischem Debütfilm „Mundo Grua“ stakste, ließ sich nicht ahnen, was dieses respektable, aber auf den ersten Blick wenig außergewöhnliche Debüt ankündigen sollte: Einen einschneidenden Bruch mit den Traditionslinien des etablierten argentinischen Kinos, seinen leichten Unterhaltungsfilmen und bemühten Qualitätsproduktionen. Mit seinem neuesten Film „Familia Rodante“, einem Familiendrama und Roadmovie, kann Trapero nun getrost zu den Traditionen zurückkehren, hat er doch nichts weniger als eine „Neue Welle“ des argentinischen Kinos mitgetragen.

So wie einst die französische Nouvelle Vague mit dem etablierten Cinéma Qualité ihrer Vorgänger brach, suchte Ende der 90er eine neue Generation argentinischer Filmemacher nach zeitgemäßeren, in ihrer Andersartigkeit teils experimentell anmutenden Ausdrucksformen, um ihr verändertes Lebensgefühl zu vermitteln. Und wie damals gingen bescheidene Budgets mit einer erstaunlich frisch wirkenden Ästhetik Hand in Hand: Ausgerechnet während die schwere Wirtschaftskrise das Land beutelte, wurde diese „Neue Welle“ Argentiniens zur gefeierten Entdeckung im internationalen Festivalgeschehen.

Die Arbeiten von Lucrecia Martel liefen in den Wettbewerben von Berlin und Cannes, Regisseure wie Lisandro Alonso und Trapero waren in prominenten Nebenschienen zu finden. Obwohl die ästhetische Sensibilität im Detail unterschiedlich war, ließen sich gewisse Ähnlichkeiten und Verbindungen nicht abstreiten: Am klassischen Geschichtenerzählen hatte man wenig Interesse, Martels visuell wie narrativ dezentralisierte Beschreibungen einer bröselnden Gesellschaft oder Alonsos zwischen Dokument und Fiktion schillernde Naturstudien waren vor allem Triumphe eines hochkörperlichen Kinos. Die Charaktere behielten aber ihre Geheimnisse, trotz der physischen Nähe: Faszinierend am argentinischen Aufbruch war nicht zuletzt, dass die Filme frei von Didaktik blieben, während der Kino-Realismus anderer Nationen zunehmend in deterministische Fallen tappte.

Traperos Schlüsselposition innerhalb der Gruppe manifestierte sich nicht nur in der Beteiligung als Produzent an zahlreichen Projekten – bei Alonsos Debüt „La libertad“ ebenso wie bei weniger radikalen, aber noch immer sichtlich eigensinnigen Filmschulabgängern –, sondern auch in seiner ästhetischen Entwicklung: War „Mundo Grua“ noch klar ein Übergangswerk, trotz angenehm unprätentiöser Gestaltung der sozialkritischen Tradition eines neorealistischen „Kinos der kleinen Leute“ verpflichtet, so gelang ihm mit dem zweiten Film, „El bonaerense“, das heimliche Meisterwerk der Bewegung. Der Titel verdankt sich einem lokalen Begriff für die korrupte Polizei von Buenos Aires, in der die straffällige Hauptfigur – von Jorge Román als faszinierend undurchsichtiger, antriebsloser Provinzklotz verkörpert – landet. Ohne recht zu wissen, wie ihm geschieht, versinkt er erkenntnislos in einem Teufelskreis aus Gewalt, Bestechlichkeit und kaum verdecktem Wahnsinn. In giftgelbem Naturlicht präsentierte „El bonarense“ einen fiebrigen Albtraum seelischer Korruption: Zwischen Schusswaffen-Weihnachtsfeiern, zähem Alltag und – kurz und fälschlich – Befreiung versprechendem, hartem Sex beschwor Trapero eine Vision, die ihren Schrecken nicht aus Genre-Mitteln, sondern aus dem Authentischen bezog.

„Familia Rodante“ vollzieht nun einen radikalen Tonlagenwechsel: Eine auf engstem Wohnmobilraum zusammengequetschte Großfamilie durchquert Argentinien auf der Reise zu einer Hochzeit, was zahlreiche komische Verwicklungen produziert. Es ist Stoff für publikumsfreundliche Unterhaltung, und der Zug von Traperos virtuos rhythmischer Regie ist so enorm, dass die Unaufdringlichkeit, mit der er typische Wendungen setzt, kaum auffällt.

Viel eindrücklicher ist die Sinnlichkeit der Details: Am Ende meint man jede Ritze in der Straße, jede Falte im Antlitz der Großmutter zu kennen, die Traperos eigene ist. Eine Studie ihres Gesichts ist auch das nach all der Heiterkeit überraschend melancholische Schlussbild, mit dem sich „Familia Rodante“ erst wirklich zu erkennen gibt: als autobiografisch inspirierter Liebesfilm.

In gewisser Weise hat Trapero das Projekt der „Neuen Welle“ Argentiniens damit nach nur drei Langfilmen zu einem unerwarteten Zirkelschluss gebracht: Er ist zum traditionellen Sujet zurückgekehrt und hat es doch auf zutiefst persönliche Weise auf den Kopf gestellt. CHRISTOPH HUBER

„Familia Rodante“. Regie: Pablo Trapero. Arg./Bras./Frank. u. a., 95 Min. Im Kino Central Hackescher Markt, fsk am Oranienplatz und Lichtblick