Hinterhofspiele und Papierbootrennen

Unmöglich, diese Geschichten alle unter einen Hut zu kriegen: Die Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Rathaus Schöneberg erzählt vom Leben im Bayerischen Viertel, bevor die Nazis einen großen Teil der Bevölkerung vernichteten

Das Böse war auch in diesem Fall banal und pedantisch. Die Finanzdirektion Schöneberg in der „Reichshauptstadt“ schickte Formulare an die jüdischen Bewohner des Stadtteils mit der Aufforderung, sämtliche Besitztümer aufzulisten. Ein bürokratischer Akt, der das sichere Zeichen für die bevorstehende Verhaftung war. Die Beamten trugen neben dem letzten Wohnsitz auch das jeweilige Deportationsziel und später das Todesdatum in diese Listen ein.

Viele Dokumente über die Deportation und Ermordung der Juden wurden noch von den Nazis vernichtet. Doch die Schöneberger Akten blieben unbemerkt – bis weit in die 80er-Jahre hinein, als sie Andreas Wilcke, ein Mitarbeiter im Informationszentrum Berlin, bei der Finanzdirektion aufspürte. Der Fund sorgte für erschrecktes Erstauen: Dass mit mehr als 6.000 Menschen eine so große Zahl Juden aus dem Bayerischen Viertel deportiert wurde, war bis dahin weitgehend unbekannt. In der Ausstellung „Wir waren Nachbarn“ im Schöneberger Rathaus sind die Karteikarten jetzt zu sehen; alphabetisch geordnet mit Namen, Geburts- und Todesdatum sowie den ehemaligen Adressen hängen sie an den Seiten des Ausstellungssaals. Und bilden so den Rahmen der Ausstellung, in deren Zentrum nicht der Holocaust, sondern das weite Spektrum jüdischen Lebens in Schöneberg und Tempelhof vor Verfolgung und Deportation steht.

In der Mitte des Saals, der wie eine alte Präsenzbibliothek gestaltet ist, liegen auf Lesepulten 102 biografische Alben von Menschen aus, die in Schöneberg gelebt haben. Es sind die Geschichten von Albert Einstein, Walter Benjamin, den Comedian Harmonists oder Else Lasker-Schüler ebenso wie die von vielen Unbekannten. Gisele Freund erinnert sich an ihre ersten Fotografien; eine geborene Nussbaum, die heute Ruth Shany heißt, hat den Stammbaum ihrer Familie beigefügt, die seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland gelebt hatte.

Man sieht alte Fotos von Schülergruppen oder die stolze Familie Hamann vor ihrem Süßwarengeschäft in der Passauer Straße, liest Kindheitserinnerungen an Hinterhofspiele und Papierbootrennen im Brunnen am Bayerischen Platz. Geschichten vom alltäglichen Leben und von der zunehmenden Diskriminierung, Abschiedsbriefe von Eltern am Vorabend der Deportation und Postkarten aus Israel oder den USA, die Überlebende jüngst an die Ausstellungsmacher geschickt haben.

Es ist unmöglich, all diese Geschichten unter einen Hut zu kriegen – und genau das macht diese Ausstellung so interessant und wertvoll: Weit mehr als der Holocaust steht hier das Leben „davor“ und, wo die Flucht gelang, das Leben „danach“ im Vordergrund. Aus abstrakten Opferzahlen, aus der Statistik, dass im Bayerischen Viertel vor dem Krieg 16.000 Menschen jüdischen Glaubens lebten, werden einzelne Biografien. Die Geschichte zersplittert in unzählige Geschichten von assimilierten und orthodoxen Juden, von „Eiserne Kreuz“-Trägern aus dem 1. Weltkrieg und Geschäftsleuten, Hausfrauen oder Anwälten. Von Menschen.

Wie die perverse nazistische Rassenideologie im privaten Lebensumfeld um sich griff und Menschen, die verschiedener nicht sein konnten, zu einer Gruppe stigmatisiert wurden – das schildert auch ein Film in der Ausstellung. Elf nichtjüdische und vier jüdische Zeitzeugen erzählen darin von ihren Erinnerungen an die NS-Zeit. Erstaunlich ist, wie die zunächst fast austauschbaren Erzählungen im Verlauf des Films auseinander driften. Die Erinnerungen an die Kindheit in den frühen 30er-Jahren liegen nah beieinander, dann dürfen „Juden“ nicht mehr auf den Bänken im Park sitzen, werden von der Bäckersfrau nicht mehr bedient, und spätestens mit der „Reichskristallnacht“ 1938 werden aus gemeinsamen „Geteilte Erinnerungen“ (so der Titel des Films).

Die Ausstellung, die in ähnlicher Form bereits im Vorjahr gezeigt wurde, hat sich mittlerweile als Intervallausstellung etabliert: Jedes Jahr soll die Ausstellung zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar für acht Wochen zu sehen sein, erweitert um historische Zeugnisse und um jüngere Dokumente, die die heutige Perspektive der Menschen am Bayerischen Platz einfangen. Eine passende Form für eine Ausstellung, die zeigt, dass hinter den Antworten und Zahlen der Geschichtsschreibung immer noch sehr viel mehr offene Fragen stecken. SEBASTIAN FRENZEL

„Wir waren Nachbarn“. Rathaus Schöneberg, John-F.-Kennedy-Platz, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. und So. 10–17 Uhr, bis 23. April