Bis gleich

KURZGESCHICHTE Verlassen ist die Stadt, erdrückend die Hitze. Sie kommen sich näher, es ist so einfach, so ohne sich anzustrengen

VON THOMAS FEIX

Mitte Juli, ein Wochentag, später Abend. Leer die Straßen, manchmal ein Auto, manchmal ein Mann auf dem Gehsteig. Ferienzeit, die Stadt war verlassen. Leer bis auf ihn auch das Café, auf dessen Terrasse Johann saß.

Ihm war unbehaglich zumute inmitten der zehn Tische und vierzig Stühle. Am Mittag war er ausgegangen, er hatte den freien Tag nicht in der Wohnung verbringen wollen, in der es still war und von der Sonnenflut heiß und grell. Morgen würde er wieder in der telefonischen Bestellannahme des Versandhauses sein. Kaum Bestellungen, kaum Abwechslung.

Beinahe, dass ihn die Hitze gleichgültig machte, der Sommer dauerte an und löste das Versprechen nicht ein, das jeder Sommer am Anfang gibt, Aufbruch, alles neu. Johann sehnte sich nach etwas, was ihn beleben würde, eine Bewegung, eine Farbe, ein Geruch. Er hatte darüber gelesen, dass in dieser Zeit die Gewalttaten zunehmen. Die Triebe überschlagen sich, die Leute sind wie toll, alle suchen sie nach Erlösung, einem Ziel.

Als würde der Sommer nie aufhören. Johann nahm sich vor, nicht mehr daran zu denken, Aufbruch, alles neu, er wollte sich nicht mehr anstrengen. Er blickte geradeaus. Stumpf das Gelb des Taxis am Haltepunkt vorm Café, der Fahrer döste auf dem Sitz. Ein Currywurststand gegenüber, niemand, der eine Wurst aß, der Mann am Grill rührte sich nicht. Kein Wind, der einen Geruch heranwehte.

Johann trank vom Milchkaffee und dachte dabei an das Erlebnis, das er in der Woche zuvor mit Andrea gehabt hatte, einer Kundin. Am Vormittag hatte sie bei der Bestellannahme angerufen, Johann war dran gewesen. Eine Couchgarnitur hatte sie bei ihm bestellt, eine Anbauwand, Küchenmöbel. Eine Stunde hatte das gedauert, und am Schluss hatte Johann Andrea gefragt, die vielen Sachen, wozu.

Es ist so, hatte sie ihm das erklärt. Habe meinen Freund verlassen. Wollte den Aufbruch, alles neu. Sie hat auch Röcke bei Johann bestellt, Hosen, Blusen, Wäsche. Sie hat ihn darum gebeten, bei der Auswahl der Kleidung behilflich zu sein. Beraten Sie mich. Immer lustiger ist es geworden, und nachdem sie herauszufinden versucht hatte, ob er Single ist, sagten sie Du zueinander und vereinbarten ein Treffen für den Abend.

Fast wäre er in dem Bistro an ihr vorübergegangen, in dem sie miteinander verabredet waren, am Tisch, an dem sie saß. „Johann?“, hatte sie gesagt. „Andrea?“, hatte er gesagt.

Johann stellte den Milchkaffee ab, er hatte Bewegung wahrgenommen, Farbe, eine Frau, die auf einem Rad saß. Ein buntes Kleid in Glockenform. Sie kam am Café vorbei, warf einen Blick hinüber. Langsam fuhr sie die Straße hinunter und verschwand in der beginnenden Dämmerung.

Er war nicht lange zusammen mit Andrea im Bistro gewesen. Bald hatten sie vor Andreas Haus gestanden, und er hatte gesagt, dass er mit zu ihr rauf möchte. Eine Wohnung mit drei Zimmern, mit Küche und Bad. Ein Bett im Schlafzimmer, das war alles an Einrichtung, und sie zeigte ihm, wo die Möbel stehen würden, die sie bei ihm bestellt hatte. Das war wieder sehr lustig gewesen. Hübsche Wohnung, hatte er gedacht, hübsche Andrea.

Früh am Morgen war er aufgestanden. Er ging von ihr fort, ohne dass er gewusst hätte, warum.

Nur noch nicht nach Hause zurück, wo es still war und jetzt dunkel und sicherlich noch immer heiß. Johann blickte sich nach der Kellnerin um. Hinterm Tresen war sie. Er winkte ihr und bestellte bei ihr, als sie heran war.

Er sah nun, dass die Frau auf dem Rad die Straße heraufkam, keine fünfzehn Minuten waren vergangen. Sie blickte zu Johann herüber. Er streckte die Hand nach dem Kaffee aus. Die Frau hielt an, als sie auf der Höhe des Cafés war, stieg vom Rad ab, lehnte es an den Laternenpfahl, schloss es an, ging aufs Café zu. War vor den Tischen und Stühlen, sie hatte die Auswahl.

Er bemühte sich darum, nicht hinzusehen, vergebens. Ein breites Gesicht bemerkte er, schmale Hände, runde Hüften.

„Frei?“, sagte sie zu ihm und deutete auf den Stuhl links von ihm.

„Bitte.“

Das Kleid bauschte sich, als sie sich hinsetzte. Eine Zigarette wird sie vielleicht rauchen, dachte er, Zeitung lesen, telefonieren. Vieles ist möglich. Meist kommt es anders.

Die Kellnerin war schnell da, und die Frau bestellte. Legte ihre Tasche auf dem Tisch ab, betrachtete den Wurststand mit dem Wurstverkäufer darin. Dann wandte sie sich Johann zu.

„Gerade Pech gehabt. Die Freundin ist nicht da, die ich besuchen wollte, aber ich will noch nicht nach Hause. Dachte mir, ich setze mich einfach zu dir.“

Der Sommer, dachte er, die Hitze, die Triebe. Wie gut, dass Sommer ist und dass es heiß ist, doch. „Wie bei mir“, sagte er. „Bin in der Stadt umhergelaufen, habe einen freien Tag. Habe mich hier hingesetzt, weil ich auch noch nicht nach Hause wollte.“

Es ging so einfach, so ohne sich anzustrengen. „Wie heißt du?“, sagte sie zu ihm. Die Kellnerin stellte Kaffee und Wasser vor sie hin.

Er sagte es ihr, dann: „Und du?“ Er beobachtete sie dabei, wie sie Milch in den Kaffee goss, den Löffel nahm, umrührte.

„Ragan, Err, A, Geh, A, Enn, ein nordischer Name. Alle sagen immer, dass das ein Männername ist. Findest du das auch?“

Er fand das nicht.

„Ragan. Ein wunderbarer Name für eine Frau.“ Ein Name, dachte er, nur ein Name.

„Ich bin Krankenschwester“, sagte sie, „hab heute und morgen frei, am Samstag wird es wieder für mich losgehen.“

Sie ließ den Kopf auf die Seite kippen. „Was arbeitest du?“

„Versandhaus, telefonische Bestellannahme. Für mich wird es morgen wieder so weit sein.“

„Auch schön“, sagte sie, „auch was mit Menschen.“

„Mit Menschen, ja“, sagte er, „aber nur am Telefon.“

„Ich mag Stimmen, die am Telefon besonders.“ Sie griff nach dem Wasser, dann nach dem Kaffee. Johann gefielen die Gesten, die sie machte. Anmutig, dachte er, weich.

„Garantiert ist sie im Kino“, sagte sie, „Kino bei der Hitze. Meine Freundin liebt Kino. Stehst du auch auf Kino?“ Sie blickte auf seine Füße. Er hatte Latschen an.

Er nickte. „Aber mehr noch auf DVD. Kann man sich den Film immer wieder ansehen. Immer zusammen mit meiner Freundin gemacht.“

„Ach? Liiert?“

„Nicht mehr.“

„Seit wann?“

„Seit einem Vierteljahr.“

„Eine Ewigkeit“, sagte sie. „Eine Tortur“, sagte er, und beide lachten sie darüber.

Eine Stunde lang sprachen sie so miteinander, da unterbrach Ragan den Redefluss. „Sag es schon“, sagte sie plötzlich leise, tonlos und ohne Johann dabei anzusehen.

Er nahm vom Milchkaffee, blickte zum Wurststand hinüber. Der Mann am Grill rührte sich noch immer nicht. Armer Kerl, dachte Johann. Arme Andrea.

Ragans Satz war unvermittelt gekommen, aber nicht unerwartet für Johann. Er musste nicht überlegen. Was konnte sie anderes meinen. „Lass uns zu dir gehen.“ „Endlich.“ Sie nahm die Tasche vom Tisch, sah nach der Kellnerin, ein Wink.

„Ich fahre mit dem Rad“, sagte Ragan zu ihm. „Bist du mit dem Auto? Gut, dann nimm die U-Bahn-Linie C bis zur Endstation. Dann den Ausgang in Fahrtrichtung. Ich hole dich von dort ab.“ Sie zahlten und gingen über die Straße, blieben beim Rad am Laternenpfahl stehen. Sie ruckelte am Schloss, er suchte nach dem Schild mit dem weißen U. Dort war es.

„Bis gleich“, sagte er und ging los. „Bis gleich“, sagte sie.