„Zehn explodierende Autos sind normal“

KRIMINALITÄT Kalabrien ist fest in der Hand der ’Ndrangheta, der dortigen Mafia. Ein Museum zeigt seit Ende letzten Jahres, wie das Syndikat arbeitet. Seine Mitbegründer sprechen über das stete Gefühl der Bedrohung und darüber, wie die Organisation ihre Herrschaft sichert

■ ist Streetworker und Präsident des Trägervereins (Associazione Antigone) des Museums; zudem Leiter der internationalen Theatergruppe „Teatro Proskenion“ und Gründer des Theaternetzwerks „Linea Trasversale“. Seit fast 20 Jahren arbeitet er auf allen Kontinenten und beschäftigt sich insbesondere mit Theater in Katastrophensituationen. Zusammen mit Eugenio Barba richtet er jährlich die „Universität des Eurasianischen Theaters“ aus.

INTERVIEW AMBROS WAIBEL

taz: Herr La Camera, Herr Tucci, wie betreibt man ein Mafia-Museum mitten im Mafia-Land?

Claudio La Camera: Einerseits funktioniert das Haus ganz klassisch. Wir zeigen Fotos und Objekte, die die ’Ndrangheta repräsentieren; aber es gibt nur geführte Rundgänge, um zu verhindern, dass die ’Ndrangheta mystifiziert wird.

Das wird die Ndrangheta aber nicht beeindrucken, oder?

La Camera: Am sozusagen militärischen Phänomen der organisierten Kriminalität können wir eh nichts ändern. Das Problem, bei dem wir ansetzen, ist: Die ’Ndrangheta setzt jährlich 40 Milliarden Euro um. Diese Geld korrumpiert alle, die Menschen, die Medien. Wie befreit man sich von diesem Mechanismus der Macht?, das ist es, was wir vor allem mit den Jugendlichen klären wollen. Denn deren Realität heißt: Alles ist normal. Es ist normal, zu emigrieren. Es ist normal, mit 40 Jahren und Uniabschluss noch nie eine Arbeit gehabt zu haben und auch keine Hoffnung, eine zu finden. Es ist normal, dass in Reggio jede Nacht 10 Autos in die Luft fliegen.

Warum das denn?

La Camera: Das sind Botschaften, die das Herrschaftsgebiet markieren.

Zwischen den einzelnen Familien?

La Camera: Nein, im Gegenteil. Oft gibt es gar keinen konkreten Grund, sie machen das einfach. Es geht ihnen um ein Klima der Bedrohung. Man weiß schon, wer dahintersteckt.

Wurden Sie persönlich schon bedroht?

La Camera: Das läuft ganz unterschiedlich, denn bei der ’Ndrangheta gibt es ja keine Dachorganisation wie bei den Sizilianern, das sind bei uns einzelne, von einander unabhängige Familien. Da gibt es die, die schauen, die die nachdenken – und die, die ihre Feindschaft ganz offen zeigen. Sie haben auf das Museum geschossen. Sie haben uns persönlich mit dem Tod bedroht, andere haben Briefe geschickt.

Haben Sie Anzeige erstattet?

La Camera: Natürlich – wenn wir das nicht tun, wer sonst! Aber es stimmt schon: Üblich ist das nicht.

Können Sie sich auf die Polizei verlassen?

La Camera: Polizei und Justiz sind uns sehr nah. Aber eine wirkliche Möglichkeit, sich zu schützen, gibt es ohnehin nicht. Deswegen denkt man weniger an sich als an die Familie, die Mitarbeiter.

Herr Tucci, Sie haben das Projekt politisch initiiert. Wie ist das abgelaufen?

Attilio Tucci: In der Welt der staatlichen Institutionen gab es immer die Tendenz, das Museum zu verstehen als etwas, was das Phänomen der ’Ndrangheta verherrlicht, statt es zu bekämpfen. Angst macht aber nicht das Wort „Museum“, sondern das Wort „’Ndrangheta“. Die Leute sind es nicht gewohnt, dieses Wort öffentlich auszusprechen. Doch die Dinge sind in Bewegung. Der entscheidende Punkt war: Das Museum befindet sich in einem Haus, das der Mafia weggenommen wurde, das konfisziert wurde. Das ist hier ein starkes Symbol.

Sie glauben, dass Haus kann etwas verändern?

Die Migranten haben sich dagegen gewehrt, ausgesondert zu werden. Eine Haltung, die wir verlernt haben

La Camera: Vor zwei Jahren, als wir das Projekt zum ersten Mal in Berlin vorstellten, hat weder Freund noch Feind daran geglaubt: Weil es eine Idee war, ein Entwurf für die Zukunft – und wir im Süden sind es nicht gewohnt, an die Zukunft zu denken. Das haben wir widerlegt.

Wieso sind Sie mit Ihrer Idee nach Berlin gekommen?

Tucci: Es gibt diesen Minderwertigkeitskomplex im Süden, dass das, was wir selbst machen, nichts wert ist. Erst wenn das Ausland und die überregionale Presse berichtet, dann geschieht etwas. Man muss aber klar sagen: Es ist immer noch ein unmögliches Projekt. Wir haben jetzt Mittel für sechs, sieben Monate.

Woher kommt das Geld?

La Camera: Zurzeit zahlt nur die Provinz. Die Region Kalabrien hat Geld versprochen. Das konfiszierte Gebäude des Museums gehört der Kommune. Es gibt eine enge Partnerschaft mit der Uni Reggio und mit der Universität La Sapienza in Rom. Aber zur Finanzierung: In einem Umfeld, wo 40 Prozent der Jugendlichen keine Arbeit haben, ist die Frage nach dem Geld …

Eine ziemlich deutsche Frage.

Tucci: Es muss jedenfalls schon ein persönliches Bedürfnis dahinterstehen.

Ist die erfolgreiche Gründung denn Ihr Verdienst, oder hat sich die Gesellschaft in Kalabrien verändert?

La Camera: Es gab immer Einzelpersonen, die mutig waren. Ohne die geht es nicht. Aber auch die Gesellschaft hat sich entwickelt – zu einem hohen Preis: All die Ermordeten!

Tucci: Am 3. Januar 2009 verübte die ’Ndrangheta ein Bombenattentat auf die Staatsanwaltschaft Reggio. Und zum ersten Mal haben die Einwohner der Stadt öffentlich ihre Solidarität mit den Behörden gezeigt, vor allem die Jungen; und die machen wir zu Protagonisten unserer Arbeit. Das Individuum wendet sich an das Individuum. Das ist das Geheimnis: eine Person nach der anderen finden – aber solche, die etwas voranbringen. Aber auch die verschiedenen Migrantengruppen machen Hoffnung. Sie haben eine andere psychische Struktur. Sie kämpfen.

Inwiefern?

La Camera: In Reggio-Stadt gibt es seit den 1980er-Jahren eine philippinische Gemeinde, die sehr gut integriert ist. Dann gibt es die Nordafrikaner, und es gibt schließlich Kurden, die sind überaus präsent. Es ist eine sehr schöne Erfahrung, mit ihnen zusammenzuleben. Sie lassen sich nicht einschüchtern.

■ ist Sozialdezernent der Provinzregierung von Reggio/C. und Mitglied der Demokratischen Partei (Partito Democratico, PD).

Was Sie sagen, ist insofern erstaunlich, als Kalabrien ja durch die Ereignisse von Rosarno in die Schlagzeilen gekommen ist, als Arbeitsmigranten vor allem aus Afrika von Einwohnern durch die Straßen gehetzt wurden.

La Camera: Was die Ereignisse von Rosarno betrifft – da wissen die meisten Kommentatoren leider nicht, wovon sie reden. Es ist undenkbar bei uns, dass 1.500 Arbeitsmigranten nicht in der Hand der ’Ndrangheta wären. In Rosarno kann man noch nicht mal ein Päckchen Zigaretten verkaufen ohne deren Erlaubnis. Dass es zur Explosion kam, kann nur bedeuten, dass die ’Ndrangheta kein ökonomisches Interesse mehr an diesen Migranten als Arbeitssklaven hatte.

Was heißt das?

La Camera: Sie muss ihnen gesagt haben, dass es keine Arbeit mehr für sie gibt. Und nun wurde die Situation, die ohnehin schon dramatisch war, aber unter der sozialen Kontrolle der ’Ndrangheta stand, wirklich katastrophal. Ich glaube aber nicht, dass es dabei um Rassismus ging, ich finde es sogar dumm, zu unterstellen, die Einwohner von Rosarno seien durch die Bank fremdenfeindlich. Natürlich gab es Probleme mit 1.500 Arbeitern, die unter schlimmsten sozialen und hygienischen Bedingungen dort leben und arbeiten. Aber als es dann keine Arbeit mehr gab …

Tucci: Es gibt dort Großgrundbesitzer, die den Orangenanbau kontrollieren. Man fragt sich, wie diese Leute, die Millionenumsätze haben, eigentlich ihre Steuererklärung machen, wo sie doch nur Schwarzarbeiter beschäftigen. Wie macht das also die ’Ndrangheta? Sie stellt Leute aus Rosarno im Winter als Saisonarbeiter an für 100 Tage – die Papiere natürlich total gefälscht. So können sie Pensionsansprüche erlangen. Anschließend melden sie sich arbeitslos und bekommen ihr Geld. Die Arbeit machen stattdessen die Migranten für einen Hungerlohn, die ’Ndrangheta verdient, und die Leute müssen ihr dankbar sein, dass sie versorgt sind – denn andere Arbeit gibt es nicht. Das ist perfekte Kontrolle des Territoriums.

Und die Migranten haben gegen die von der ’Ndrangheta ausgeübte Kontrolle rebelliert.

Tucci: Sie haben es gut gemacht! Die Einwanderer haben reagiert, sie haben es sich nicht gefallen lassen, ausgesondert zu werden. Das ist eine Haltung, die wir Einheimischen leider verlernt haben.