„In Deutschland bist du immer Jude“

Jeffrey Peck

„So wichtig die Frage der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ist – die kompliziertere Frage ist doch, wie Deutschland künftig mit seinen muslimischen Einwohnern fertig wird. Das ist viel brisanter“„In Amerika ist es leichter, mehrere Identitäten gleichzeitig zu haben. Zu jüdischen Feiertagen gehe ich in eine ‚gay and lesbian synagogue‘. Wenn ich in die Jüdische Gemeinde in Berlin gehe, sage ich nicht, dass ich schwul bin“

Der jüdische US-Amerikaner Jeffrey Peck, Jahrgang 1950, hat eine besondere Beziehung zu den Deutschen, seit er vor über 35 Jahren zum ersten Mal nach Deutschland kam. Peck traf auf eine Generation, die die Verantwortung für den Holocaust von sich wies. 1982 zog es ihn nach Berlin für ein Forschungsprojekt über deutsche Literatur. Er verliebte sich – und pendelt seitdem zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Hauptstadt. Der Professor für Kulturwissenschaft an der Georgetown University hat in den USA gerade sein neuestes Berlin-Buch veröffentlicht: „Being Jewish in The New Germany“, in dem es um jüdische Identitäten geht. Ein schwieriges Thema – auch für den Autor selbst. Denn Peck ist schwul.

INTERVIEW CEM SEY
UND ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Oh nein, nicht schon wieder ein Buch über Juden und Berlin, denken viele. Herr Peck, warum braucht die Welt Ihr Buch?

Jeffrey Peck: Weil sich die Stereotype über Deutschland wenig verändert haben, seit ich in den Nachkriegsjahren aufgewachsen bin. Von Amerikanern, Juden und Nichtjuden gleichermaßen höre ich immer wieder Klischees und Ressentiments gegenüber Ihnen, den Deutschen. Mir liegt daran zu zeigen, dass sich Deutschland verändert hat. Viele Amerikaner und amerikanische Juden wissen überhaupt nicht, dass Berlin die am schnellsten wachsende jüdische Gemeinde der Welt hat, dass wieder rund 160.000 Juden in Deutschland leben und dass jüdisch zu sein hier wieder Teil des Bewusstseins geworden ist.

Gibt es in den USA eine Kultur der Ressentiments gegenüber Deutschland?

Interessanterweise weniger bei den aus Deutschland geflohenen Juden als vielmehr bei den osteuropäischen Juden. Da werden Ressentiments gegenüber Nazi-Deutschland unreflektiert vom Großvater auf die Enkelkinder übertragen. Ich möchte, dass man genauer hinschaut.

Was sieht ein Amerikaner da?

Bei der Integration der Juden und der Migranten ist nicht alles gut gelaufen – Stichwort Leitkultur. Aber die Deutschen haben diese Debatten zunehmend transparenter gemacht. Mir liegt besonders am Herzen, dass die amerikanischen Juden das verstehen. Denn ich werde immer noch gefragt: „Wie kann man bloß in Deutschland leben, nach allem, was passiert ist?“

Zum ersten Mal kamen Sie 1969 nach Deutschland, um in Stuttgart ein Praktikum zu machen. Waren Sie damals ein Amerikaner im besiegten Deutschland – oder ein Jude im Täterland?

Bis in die 80er-Jahre hinein, als das Thema noch eher verschwiegen war, war ich mehr wie alle anderen Amerikaner. Wenn ich ältere Menschen sah, fragte ich mich: „Was hat er oder sie bloß während des Krieges gemacht?“ Ich war irgendwie darauf fixiert.

Jüdische Identität, worum es in Ihrem Buch vor allem geht, war damals kein Thema?

Ich spürte sofort, dass Jude zu sein in Deutschland etwas sehr Exotisches ist. Ich erfahre stets besonderes Interesse an meiner Person, weil ich Jude bin. Ich erlebe eher Philosemitismus als Antisemitismus. Das geht so weit, dass ich mir heute schon manchmal überlege, ob ich überhaupt sage, dass ich Jude bin.

Das nervt, weil es immer noch zeigt, dass keine Normalität eingekehrt ist?

Ich fühle mich in der Berliner U-Bahn fast ein kleines bisschen unwohl, wenn ich da sitze und die Jüdische Allgemeine Wochenzeitung lese. Ich spüre da so etwas wie Scheu. Ein Gefühl, das ich aus Amerika gar nicht kenne.

Haben Sie Unangenehmes erlebt?

Nein, ich selbst habe nie komische Sachen erlebt. Aber viele amerikanische Juden kommen nach Berlin und warten geradezu darauf, dass etwas Negatives passiert, um dann sagen zu können: „Ach, das ist immer noch das alte Nazi-Deutschland.“

Ist Antisemitismus aus Ihrer Sicht auch eine Frage der Wahrnehmung?

Als ich 1969 bei meiner schwäbischen Gastfamilie, einer evangelischen Pfarrersfamilie, ankam, sagte die Mutter gleich in der ersten Minute: „Wir haben von all dem nichts gewusst!“ Darauf holte sie dann Hitlers „Mein Kampf“ und erklärte mir, dass man das in Deutschland nicht mehr haben dürfe. Das meinte sie gar nicht antisemitisch. So war aber meine erste Begegnung mit den Deutschen. Danach war alles klar. In Deutschland bist du immer Jude.

Sie sind trotzdem wiedergekommen, im Jahr 1982 nach Berlin. Warum?

Wegen eines Forschungsprojektes über die deutsche Literatur im 19. Jahrhundert. Ich war 32, es war ein herrlicher Sommer, ich saß jeden Tag in der Stabi – und habe mich verliebt. Ich weiß gar nicht mehr, was zuerst kam. Ich hatte weder vorgehabt, nach Berlin zu kommen, noch ein Forschungsprojekt hier zu machen. Ich hatte dann aber immer wieder Grund zurückzukommen, weil mein damaliger Freund hier lebte.

Spielt Ihr Jüdischsein da eine besondere Rolle?

Man kann als Jude nicht in einer Beziehung mit einem nichtjüdischen Deutschen leben und das nicht thematisieren.

Was meinen Sie damit?

Ich muss wissen, wo der Mensch steht. Wenn das einmal geklärt wurde, dann kann man ganz locker damit umgehen. Mein Freund und ich machen zum Beispiel oft gemeine Witze über Deutsche und Juden. Witze, die man in der Öffentlichkeit nicht machen sollte. Aber das gehört zu unserer Beziehung und wirkt wie ein Ventil. Meinen ersten deutschen Freund fragte ich damals manchmal: „Wenn wir jetzt in der Nazizeit lebten, würdest du mich retten?“ In meiner heutigen Beziehung ist das kein Thema mehr. Es ist ein Stück Normalisierung.

Sie sagen, Berlin ist für Sie ein Stück Heimat. Welche Heimat kann ein homosexueller Jude in Berlin finden?

Wenn ich mich in Berlin ganz niederlassen würde, würde ich wahrscheinlich aus meinen verschiedenen Identitäten jeweils das nehmen, was passt. Ob Amerikaner, Jude und Schwuler sein jemals zusammenkommen, wer weiß?

Ist es in Washington, wo Sie auch leben, einfacher?

In Amerika ist es leichter, mehrere Identitäten gleichzeitig zu haben. Zu den hohen jüdischen Feiertagen gehe ich dort in eine „gay and lesbian synagogue“. In die kommen aber auch Großeltern, Eltern, Kinder; das ergibt eine sehr warme, herzliche Atmosphäre. Wenn ich in die Jüdische Gemeinde in Berlin gehe, sage ich nicht, dass ich schwul bin. Ich sage das jetzt hier zum ersten Mal öffentlich. In Berlin überlege ich sonst immer sehr genau, ob ich mein Jüdischsein mit dem Schwulsein überhaupt verbinden soll. In der Szene habe ich es bislang jedenfalls nicht thematisiert.

Die Berliner Jüdische Gemeinde ist eine orthodoxe Gemeinde. Gibt es dort überhaupt Platz für Juden wie Sie?

Mit dieser Gemeinde kann ich mich kaum identifizieren. Erstens, weil sie sich als eine sehr religiöse Gemeinde versteht, ich mich hingegen als ein Kulturjude oder ethnischer Jude, wie wir in Amerika sagen. Das heißt, ich bin nicht religiös. Wenn ich mit der Berliner Jüdischen Gemeinde zu tun habe, werde ich allerdings offen aufgenommen, weil ich amerikanischer Jude bin und damit Freiheiten habe. Es ist dann kein Thema, dass ich dem Reformjudentum angehöre. Als Amerikaner finde ich diese Gemeinde eher schwierig.

Warum?

Ich habe dafür Verständnis, dass der Zustrom so vieler russischer Juden die Gemeinde vor schwierige Fragen stellt. In den USA gibt es aber keine Einheitsgemeinden, und es werden alle Formen des Jüdischseins akzeptiert. Es ist dort auch kein Problem, sich nur kulturell als Jude zu verstehen. In Deutschland ist die Definition, wer Jude ist, viel enger und stark ausgerichtet an den halachischen Gesetzen. Ich kenne hier viele Juden, auch agnostische, die sich deswegen in der Gemeinde nicht aufgehoben fühlen und längst eigene Gruppen gegründet haben.

Sie meinen, in Berlin entscheidet die Gemeinde, wer jüdisch ist und wer nicht; in den Vereinigten Staaten hingegen bleibt das dem Individuum selbst überlassen?

Die Jüdische Gemeinde sollte ein offeneres Sammelbecken werden. Für die Zukunft wäre es wichtig, dass man auch hier Jude sein kann, ohne in die religiösen Kategorien orthodox-liberal zu passen. In Amerika gründen Juden, die sich in einer Gemeinde nicht wohl fühlen, einfach eine neue Synagoge. Das geht hier nicht, weil es stets auch um die politische Frage geht, wer für die Juden spricht und wer die Zuschüsse vom deutschen Staat kriegt. Juden in Deutschland sind damit meiner Ansicht nach aber nur ein Spiegel der Gesellschaft – und, wie die Deutschen insgesamt, nicht sehr flexibel.

Sie meinen tolerant?

Es wäre wichtig für Deutschland, dass es nichts Besonderes mehr ist, türkisch, jüdisch, schwarz oder homosexuell zu sein. Ich will nicht belehrend sein, aber viele Deutsche haben immer noch Schwierigkeiten, das Wort Jude über die Lippen zu bringen.

Warum wäre das notwendig?

Ignaz Bubis, der langjährige Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat mal gesagt, dass Xenophobie, Rassismus und Antisemitismus die gleichen Wurzel haben und zusammenhängen. Ich finde, als Jude muss man sich Sorgen machen, wenn Türken angegriffen werden und umgekehrt. Aber hier gibt es wohl nicht so ein Solidaritätsgefühl unter den Minderheiten, zumindest glaube ich mittlerweile nicht mehr daran.

Dabei haben Sie dem Thema der jüdisch-türkischen Beziehungen, als einer der Ersten überhaupt, in Ihrem Buch ein ganzes Kapitel gewidmet.

Weil es mich lange beschäftig hat. Meine Generation amerikanischer Germanisten, viele davon auch Juden, hat sich sehr früh und intensiv mit deutsch-türkischer Literatur und ihren Fragen beschäftigt. Viel früher als die deutschen Akademiker, weil wir uns im Zuge des Multikulturalismus der 60er-Jahre stark mit Fragen der Identität beschäftigten. Die Deutschen haben damit Probleme.

Welche Rolle spielt dabei das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden?

So wichtig die Frage der Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden ist – die kompliziertere Frage ist doch, wie Deutschland künftig mit seinen muslimischen Einwohnern fertig wird. Das ist viel brisanter. Denn mittlerweile gibt es eine demografische Wahrheit.

Gab es für Sie eine Schlüsselszene, wo das Gefühl plötzlich da war, dass jüdisches Leben zurück nach Berlin gekehrt ist?

Ja. Das war, als ich eines Morgens in einem Bagel-Laden saß, einem der ersten Bagel-Shops Berlins. Ich war einfach überrascht. Es ist für mich etwas Vertrautes, etwas Amerikanisches, Ostjüdisches. Ich weiß, jetzt werden viele sagen, dass Bagels doch nichts mit Juden zu tun haben. Für mich aber war dieser Morgen, wo ich mit einem deutschen Freund saß, der auch in Amerika gelebt hatte, etwas Besonderes. Es ist einfach eine schöne Metapher. Für mich ist Berlin eine viel jüdischere Stadt geworden, auch weil man diese wunderschöne Synagoge in der Oranienburger Straße in der Berliner Skyline sieht. Das ist ein starkes Symbol für eine bessere Zukunft.