Das Böse kommt von oben

„Was kommt denn da geflogen? Sind das Gänse? Oder Schwäne? Das fehlte mir gerade noch“

von Gut Schmerwitz ERIK HEIER

Jetzt sind sie also da.

Tausende Hühnerleiber auf den Stangen, in den Volieren, zwei Etagen. Ein einziges träges, braunweißes Wogen, zaghafte Flügelschwünge im fahlen Licht von Lampen, die wie Kellerfunzeln aussehen. Rita Neumanns Schuhe wühlen das Stallstroh auf. „Die legen schon Eier, jetzt schon!“, sie ruft es fast heraus, sie strahlt dabei, blonder Fransenschnitt, dunkle Haarspitzen. Eben noch sind ihre Schuhe vor der Stalltür auf der kleinen desinfektionsmittelgetränkten Seuchenmatte eingesunken, einige Millimeter tief nur. Die müssen reichen gegen das Virus, H5N1, das Vogelgrippenvirus. Falls es wirklich hierher kommt.

Falls, falls, falls.

Sechs lange Stunden Fahrt haben die Gefiedergefährten in den Hühnerknochen, inklusive Stau, von Bayern nach Brandenburg, 2.800 neue Legehennen und ein paar Hähne für das brandenburgische Gut Schmerwitz 80 Kilometer südöstlich von Berlin. Ein Hahn kickt sanft gegen ein Ei, sauberer Innenkrallenkurzpass. Nur wenige Hühner tasten sich wie er auf dem Stallboden vor. Ungewohntes, unbetrippeltes, unbepicktes Terrain. Sie werden sich daran gewöhnen. Sie müssen. Bundesweite Stallpflicht bis Ende April.

Ausgerechnet jetzt bekommt Rita Neumann, Betriebsleiterin auf dem Gut Schmerwitz, neue Hühner geliefert. 6.000 hat das Gut im vergangenem Jahr angeschafft. Biolandbetrieb, 1.500 Hektar. Auch Schweine, Schafe, Rinder. Auf Rügen wird das Nutzgeflügel gekeult, tausendfach. Man mag gar nicht mehr Nachrichten gucken oder in die Zeitung.

Knapp 9.000 Hühner also.

Die Stallpflicht trifft alle Geflügelzüchter. Besonders aber trifft sie die Biobranche. In der konventionellen Geflügelzucht kommt das Federvieh ja ohnehin kaum aus den Ställen heraus. Anders bei den Biobauern. Deren Tiere sind den Stall nicht gewohnt, nicht den ganzen Tag, nicht über Wochen. „Meine Gänse fressen seit einer Woche nichts mehr“, befindet etwa der uckermärkische Ökolandwirt Thomas Ebel. „Man muss sie beschäftigen“, sagt Rita Neumann. Rote Beete, Körner, Kürbisse, Möhren, Muschelkalk. Wenigstens seien die Ställe in Schmerwitz neu und geräumig. „Das Schlimmste, wovor jeder Biobauer Angst hat, wäre Federpicken und Kannibalismus unter den Hühnern.“

Natürlich haben sie auf Gut Schmerwitz überlegt, diese Hühnerfuhre doch noch abzusagen, aber nur kurz. Rita Neumanns ruhige, betont unaufgeregte Stimme wird energisch: „Aber wir wollen ja nicht in Panik verfallen, wir sind es unseren Kunden schuldig.“

Das kann man mutig nennen. Vielleicht muss man es sogar.

Jetzt, wo andere Biobauern grübeln, ob sie überhaupt noch für die Weihnachtsgänse und -enten aufstallen sollen. Wie zum Beispiel der brandenburgischen Ökolandwirt Fritz Siedentopf. Auf die Frage, ob sein trefflicher E-Mail-Name noch irgendeinen tieferen Sinn hätte, kann er nur sarkastisch lachen. Er nennt sich online „Geflügelfritz“. Während ein anderer Brandenburger Biobauer, Marcus Sperlich, sich darüber aufregt, dass „die Situation den Käfighaltern in die Hände spielt“, und dann achselzuckend kalauert, dass er auf Kaninchen umstellen würde, wenn Geflügelhaltung einfach nicht mehr ginge. Gut, ja, schön. Kaninchen können wenigstens nicht fliegen. Sie können nicht das Virus über die Köpfe der Bundeswehrsoldaten auf Rügen tragen. Sie können nicht alles noch schlimmer machen.

Rita Neumann, 52, hat auf Gut Schmerwitz 1970 ihre Lehre als Landwirtschaftskauffrau begonnen. Dieses Gut ist ihr Leben, ihr Arbeitsleben jedenfalls. An einem alten Silogebäude kann man noch ausgeblichen „VEG P Schmerwitz“ lesen, volkseigenes Gut für Pflanzenproduktion, und zwei Jahreszahlen, 1978 und 1989.

Nach der Wende haben sie hier auf biologisch-dynamisches Wirtschaften umgestellt. Eine Suchthilfeorganisation kaufte damals das Gut von der Treuhand. Dann wurde es im Jahr 2000 von der Familie van Schoonhoven übernommen. Seit gut einer Woche ist es nicht mehr Demeter-, sondern Biolandbetrieb. Vor dem kleinen Hofladen haben sie „Achtung!“ auf eine Tafel gemalt, rote Kreideletter. Und: „Schlachtetag“.

Schweine, nicht Hühner.

Am Hühnerstall schiebt Geflügelzüchtern Christa Ladewig die Tür auf. So wie sie dieses „mulmige Gefühl“ wegschieben möchte, wenn sie am Himmel Zugvögel vorüberziehen sieht. Gänse, Schwäne, Kraniche. Deren Kot könnte das Virus bringen, hoffentlich nicht. „So schnell haben wir das mit der Vogelgrippe alles nicht erwartet“, seufzt Christa Ladewig. 59 Jahre alt, still, blonder Bubikopf. Ihr Zeigefinger kratzt unruhig am Daumennagel der anderen Hand.

Vor dem neuen, geräumigen Hühnerstall fließen zwei riesige, eingezäunte Auslaufflächen auf den fernen Waldrand zu wie ein gefrorener See. Aber hier gibt es keine Seen. Das ist jetzt fast ein Glück, weil doch Wassergeflügel besonders anfällig sein soll für die Vogelgrippe. Sofern man noch von Glück reden kann.

Niemand will vorhersagen, wann die Hühner von Gut Schmerwitz auf diese Auslaufflächen dürfen. „Schade, dass sie nicht rauskönnen“, murmelt Christa Ladewig, samtweicher Tonfall. Sie geht langsam wieder hinein, schaut auf ihre Kollegin Heidrun Fuhrig, dunkle Haare, Brille, 50 Jahre alt, hat hier auch schon die Lehre gemacht. Die sortiert gerade Eier: „Gut Schmerwitz. 6 frische Bio-Eier aus ökologischer Erzeugung“, die meisten sind für Berliner Abnehmer bestimmt. Heidrun Fuhrigs Hände greifen nach den Eiern, die aus der Größensortierung herauskullern, Hände wie auf Autopilot, alles wie immer.

„Da ist jetzt viel Panikmache dabei“, sagt Christa Ladewig.

„Denk ick och.“

„Finde ich übertrieben. Im Bestand ist doch noch nichts.“

„Und wat die immer erzählen. Keen Fleisch roh essen. Wer macht denn det überhaupt? Rohet Fleisch essen.“

Nebenan gurren die neuen Hühner leise, es klingt fast wie Klagelaute. Auf der anderen Seite, im zweiten Stall im Gebäude lärmt das „heimische“ Federvieh munter im Stroh.

Man kann ja langsam das Gefühl bekommen, H5N1 spiele Hase und Igel, ich bin all hier. Eben war es an der Ostseeküste, dann taucht es am Bodensee auf, „als wenn es einfach über uns hinweggeflogen wäre“, wie der Ökoexperte Friedel Deerberg staunt, der in der Nähe des niedersächsischen Duderstadts sitzt und seit 15 Jahren Ökobauern berät. Und am Wochenende hat es auch Brandenburg erwischt, zwei tote Vögel.

Wenn es doch nur ein Spiel wäre. Deerberg fürchtet, dass die Stallpflicht über Ende April hinaus verlängert wird. „Ein generelles Einhausungsgebot wäre für Biobauern und Freilandhalter ein ziemliches Debakel“, orakelt er.

Noch darf der auf die Schalen aufgedruckte Code der Bioeier mit einer „1“ beginnen, für Freilandhaltung. „Das wird aber zunehmend zum Problem“, sagt der Ökobauer Thomas Ebel, „wenn Freilandeier verkauft werden, obwohl kein Huhn mehr frei herumläuft.“

Aber was soll man noch machen? Warten, warten. Warten zermürbt. Die Biobauern stallen ihre Tiere ein, legen Seuchenmatten aus, versuchen ruhig zu bleiben in all der öffentlichen Aufwallung. Ein Henne-Ei-Problem der perfiden Art: Was ist zuerst da, das Virus oder die Angst davor? Noch sei die Seuche eine Tierkrankheit, beten die Züchter herunter, man müsse die Nutztiere schützen, man dürfe keine Fremden in die Ställe lassen. Mehr ginge ja nicht.

Aber nicht nur das H5N1-Virus selbst ist hochinfektiös, sondern schon das Wort Vogelgrippe selbst. Dieses klebrige, düstere Buchstabenungetüm, dass die Kunden nervös werden lässt, vor allem die sensiblen Städter, die einen Großteil der hierzulande verkauften Bio-Eier abpellen oder in die Pfanne schlagen. Im Jahr 2003 wurden in Deutschland rund 210 Millionen Bio-Eier produziert, rund 1,6 Prozent der Gesamteierproduktion.

Einem Biobauer aus Nordbrandenburg ist reichlich seltsam zumute bei dem Gedanken, sein Hof könnte im Zusammenhang mit Vogelgrippe auch nur namentlich erwähnt werden. „Das würde reichen, dass wir kein Ei mehr in Berlin verkaufen können.“

Bei Rita Neumann freilich wuselten, als die Vogelgrippe erstmals Ende vorvergangener Woche Rügen knackte, die Fernsehsender ein und aus. Vom RBB, sogar vom amerikanischen CNN. „Wir haben sie aus dem einen Grund reingelassen, um den Leuten klarzumachen, dass die Vogelgrippe ganz schlimm ist, aber kein Grund zur Panik.“

Ein französisches Kamerateam habe gar wieder ausgeladen werden müssen, es wurde einfach zu viel. „Wir tun alles, damit bei uns die Vogelgrippe nicht ausbricht“, sagt sie.

In einer Ecke ihres Büros lehnt eine Statue der heiligen Maria, früher stand sie in der schönen, leider maroden Gutskirche. Es ist aber keinesfalls so, dass Rita Neumann auf Hilfe von oben hofft. Von oben, aus der Luft ist auch alles andere als Hilfe zu erwarten. Eher das Gegenteil. Plötzlich irrlichtert ihr Blick durch das Fenster, „Was kommt denn da geflogen?“ Vier weiße Flecken am blassblauen Himmel über dem Fläming. Flügel, Hälse. „Sind das Gänse? Oder Schwäne? Das fehlte mir gerade noch.“

Leichthin sagt sie das, wie einen Witz. Sie lacht dabei.