Die vergessene Ära Kohl

GEMÜSE Als Deutsche noch „Krauts“ hießen, wussten sie, wie man Kohl kocht. Heute kriegt das kaum jemand hin, und alle wundern sich über Blähungen

  Gesund und leicht Sauerkraut lässt sich leicht herstellen: Gehobelter oder fein geschnittener Kohl wird schichtweise mit Salz in ein Gefäß gepresst. Man gibt etwas Wasser hinzu, um die Salzlake mit einem Salzgehalt von etwa 2,25 Prozent zu erhalten. Bei Zimmertemperatur fühlen sich die Milchsäurebakterien wohl und setzen reichlich Milchsäure frei. Nach etwa drei Wochen ist das Sauerkraut durchgegoren.

  Warum riecht Kohl so schlimm? Die Pflanzen der Kohlfamilie (Wirsing, Brokkoli, Blumenkohl, weiße Rübchen, Senfpflanzen etc.) enthalten schwefelige Verbindungen, die an den Zucker des Kohls gebunden sind. Beim Kochen, Säuern oder Fermentieren werden sie durch Enzyme freigesetzt. Je länger Kohl kocht, desto mehr Aromamoleküle entstehen und umso penetranter wird der Geruch. Kurze Garzeiten können Abmilderung schaffen.

VON TILL EHRLICH

Im Berliner Wedding soll es noch Treppenhäuser geben, in denen sich bis heute ein seltsamer Kohlgeruch festgesetzt hat, obwohl auch dort schon lange keine Kohltöpfe mehr dampfen. Man denkt an Kohlsuppe und Krautwickel und spürt die Patina, den Anachronismus, der diesen Namen anhaftet. Als Kohl wurde früher Zentnerkohl oder spitzer Filderkohl verwendet, das war die Zutat, aus der derbe, kraftvolle Gerichte entstanden, die sättigten und zugleich die Lust auf Herzhaftes weckten. Dazu wurde reichlich getrunken. Bitteres Bier und scharfer Schnaps – böse Sachen, die heute verpönt sind. Doch diese proletarische und bäuerliche deutsche Krautküche ist längst passé, geblieben sind die Klischees. Die bäuerlichen Lebenswelten sind heute fast vollständig urbanisiert worden, und Arme kochen keine derben Kohlsuppen mehr, sie sind dem Zynismus der Aldi-Kost ausgeliefert.

Zum Kohl passt auch das Unwort von der deutschen Hausmannskost. Was man darunter zu verstehen hat, wird einem bewusst, wenn man heute in einer Berliner Kneipe Kohlrouladen bestellt. Meist wird eine aufgetaute Convenience-Kohlroulade aufgewärmt. Das ist ein überdimensionierter, ballgroßer Hackfleischklops, der von einem ledrigen Weißkohlblatt zusammengehalten wird und in brauner Soße schwimmt. Man starrt entgeistert auf diesen ungenießbaren Alptraum.

Das hat der Weißkohl nicht verdient. Er ist eigentlich gutmütig und deftig, sein Aroma hat etwas Durchdringendes. Man kann es aufdringlich und penetrant nennen. Oder charaktervoll und ein wenig bittersüß. An diesem Punkt könnte man beginnen, sich ernsthaft mit dem Kohl zu beschäftigen, denn Kraut heißt Vielfalt, die einen jahreszeitlichen und regionalen Rhythmus hat und sich auf alle Jahreszeiten verteilt: Grün-, Weiß-, Rot-, Spitzkohl oder Wirsing. Spitzkohl ist die zartere, feinere Variante des Weißkohls, die bald Saison hat, unter Folie wächst und das Winterende einläutet. Er hat ein kleines grünes Herz, umhüllt von großen, schnell gewachsenen Blättern. Ab Mai entwickelt er mit zunehmender Sonnenwärme ein intensives, süßes Aroma und eine knackige Textur. In der modernen französischen Küche wird er nicht wie Kraut gekocht, sondern nur kurz pochiert und dann mit Zwiebeln und frischem Ingwer gebraten. Er darf dabei knackig bleiben.

Außer Rohkost nix los

In Deutschland ist außer Rohkost mit dem Kraut nicht mehr viel los, obwohl es eine unterdrückte, oft ungelebte Liebe zum Deftigen gibt. Heute gibt es in Deutschland kaum noch Restaurantköche, die Kohl können. Es ist einfach vergessen worden, wie es geht. Typisch deutsche Gemüse waren einmal Rotkohl und Sauerkraut, sie sind nicht leicht zuzubereiten, da der Geschmack zwischen sauer, süß und salzig so balanciert werden muss, dass keiner dieser Geschmäcker dominiert. Dazu braucht man einen sicheren Geschmack und Übung, da der Kohl schwammartig Aromen und Gewürze aufsaugt. Man gibt beim Kochen Gewürze, Salz und Essig oder Wein in großen Mengen dazu, und trotzdem schmeckt es lange Zeit lasch. Doch plötzlich, wenn die Sättigung erreicht ist, dominiert eine Geschmacksrichtung. Deshalb wird das weihnachtliche Rotkraut in der Regel zu süß gekocht, ebenso das Bayrisch Kraut. Beim Sauerkraut muss man sich entscheiden, ob man ihm mit Zucker und durch zu langes Wässern und Zucker die kraftvolle Säure nimmt, was einer Kastration gleicht.

Schon in der Wirtschaftswunderzeit war der pure Kohl zu derb geworden, er wurde mit Ananas aus der Dose vermischt – süßliches Ananaskraut war das Ergebnis dieser seltsamen Veredelung.

Das hat der Weißkohl nicht verdient. Er ist eigentlich gutmütig und deftig, sein Aroma hat etwas Durchdringendes. Man kann es aufdringlich und penetrant nennen

Wie Kohlroulade zubereitet wird, ist in Deutschland zumeist vergessen worden. Hier wird der Kohl unvergoren gekocht oder roh gegessen, und viele wundern sich, wenn sie Blähungen bekommen. Man muss heute nach Osteuropa fahren, nach Ungarn, Serbien oder Rumänien, um zu erfahren, dass Kohlroulade ein genussvolles Thema sein kann. Der Hauptunterschied ist, dass sie dort mit Sauerkohlblättern zubereitet wird, wodurch die ganze Speise herzhafter, weicher und bekömmlicher wird. Auch die Füllung ist leichter, enthält Reis, Gemüse und entweder kein Fleisch oder nur sehr wenig davon. Fleisch ist bei einer guten Kohlroulade verzichtbar. In Rumänien sieht man auf vielen Balkonen auch noch Steinguttöpfe, in denen der Kohl milchsauer gemacht wird mit einem Stein obenauf als Beschwerung.

Generell ist es schwierig, einen großen, älteren Weißkohl unvergoren so zuzubereiten, dass er schmackhaft und bekömmlich ist. Deswegen muss Weißkohl in Salzlake zu Sauerkraut gären. Hierbei werden Fäulnis auslösende Bakterien abgetötet, während sich die Milchsäurebakterien vermehren. Bei der Fermentation wird die Glukose des Kohls in Milchsäure abgebaut, wodurch das Sauerkraut sein typisches Aroma bekommt.

In Frankreich gibt es nicht nur Sauerkraut-Quiche, sondern auch Champagner-Kraut, was nicht dekadent ist, sondern eine sinnvolle Verbindung sein kann, wobei man freilich keinen Champagner, sondern einen anderen trockenen Schaumwein verwenden kann. Die Kohlensäure und Weinsäure des Champagners kann dem Kraut einen raffinierten, pikanten Geschmack geben. Ein Kohlgericht, das intensiv nach Kohl riecht, aber köstlich schmeckt, heißt Chou farci aux marrons. Das ist ein mit Esskastanien gefüllter Kohl; eine deftige Fastenspeise, die gänzlich ohne Fleisch auskommt. Der Kohlkopf wird im Ganzen gekocht, mit Kastanien und Zwiebeln gefüllt und fast fünf Stunden lang im Ofen langsam geschmort. Dabei entwickelt er einen komplexen Geschmack und steht als eigenständiges Gericht für sich.