Dem Collapsus termicus erlegen

Ein pensionierter Lehrer beweist: Latein lebt! Kurt Hille führt in Toga und Sandalen durch die Herculaneum-Ausstellung im Focke-Museum. Und, oh Wunder: Das Publikum versteht ihn

Bremen taz ■ Die Toga hält nicht lange durch: Der untere Zipfel rutscht gen Fußboden, der obere will auch nicht recht auf der Schulter bleiben. Kurt Hille blickt sich Hilfe suchend um: „Ubi est uxor clarissima?“ – Wo ist meine wunderbare Ehefrau? Gleich mehrere weibliche Antikenfans eilen mit ihr herbei und machen alles noch schlimmer. Das honorige Wickelgewand verwandelt sich in ein Minikleid.

Kurt Hille, bis zu seiner Pensionierung Lateinlehrer im Schulverbund Lesum, ist dadurch nicht aufzuhalten. Mit einem forschen „Venite mecum!“ (Kommt mir mir!) dirigiert er rund dreißig Besucher durch die Herculaneum-Ausstellung im Focke-Museum. „Es hat schon seinen Grund, dass Latein ausgestorben ist“, grummelte ein Schüler noch vor Beginn. Dies zu widerlegen, ist Kurt Hilles Mission, und die vertritt er mit Temperament. Er übersetzt Nachrichten für Radio Bremen ins Lateinische und hat einen Stammtisch ins Leben gerufen, bei dem lateinisch parliert wird.

Jetzt stellt er sich als Bürger von Herculaneum vor, der dem Vesuv-Ausbruch entkommen ist. Für einen alten Römer kennt er sich erstaunlich gut aus mit physikalischen Fakten: Eine pyroklastische Wolke (nubis pyroclastica) mit Überschallgeschwindigkeit (supersonica) also hat die Herculaneer dahingerafft, sodass sie in Sekundenbruchteilen einem Hitzschlag (collapsus termicus) erlagen.

Solche rück-latinisierten Fremdwörter sind Kurt Hilles Geheimrezept, um sicherzustellen, dass man ihm folgen kann. Und, oh Wunder: Es klappt. Das Publikum grinst verständig bei jedem seiner Scherze. „Das ganze Brot ist in acht Teile geteilt“, beginnt er und zeigt auf ein Fladenbrot, das durch die blitzschnelle Verkohlung konserviert wurde. Schallendes Gelächter antwortet. Der Witz macht jeden, der mal mit Caesars staubtrockener Abhandlung über den gallischen Krieg gequält wurde, zum Insider: „Ganz Gallien ist in drei Teile geteilt“, erinnert man sich an den legendären Anfangssatz und wächst ein bisschen.

„Das ist alles lupenreines Latein“, erstickt Kurt Hille jeden Zweifel im Keim. „Manche Lehrer meinen allerdings, nur Cicero hätte richtiges Latein geschrieben.“ Dabei hätte der Durchschnittsrömer den Rednerpapst so wenig verstanden wie heute der Durchschnittsleser das Feuilleton der FAZ. Schlimmstenfalls helfen Gesten: Die an der Kehle entlanggewischte Handkante erklärt vieles, was mit einer Naturkatastrophe zusammenhängt.

Doch Hille mutet seinem Publikum auch so tollkühne Satzkonstruktionen wie den „ablativus absolutus“ zu, den so mancher Lehrer schon mit der Ankündigung vergiftet hat: „Jetzt kommt das Schwerste, was es im Lateinischen gibt.“ Muss er zu Beginn noch auf diese Grammatik-Pirouette hinweisen, so genügt am Ende ein stummer Fingerzeig und ein verschwörerisches Grinsen. Das Publikum grinst zurück und wächst noch ein Stück.

Extra aus Hamburg anzureisen, hat sich gelohnt, findet der 13-jährige Julian. Zwar hat er nach drei Jahren Lateinunterricht nicht jedes Wort verstanden. Doch worum es ging, ist ihm sonnenklar. Er findet es prima, Latein mal als lebendige, gesprochene Sprache zu hören. „Im Unterricht kommt man fast nie dazu, selbst zu sprechen“, bestätigt ein pensionierter Lateinlehrer aus dem Publikum: zu wenig Zeit, zu wenig Interesse, zu viel Grammatik.

Hier ist Kurt Hille anderer Meinung: „Als ich ein dänisches Lehrbuch eingeführt habe, bei dem sich der Unterricht auf Latein abspielt, haben sich die Schüler im Schnitt um zwei Noten verbessert.“ Das Problem sei, dass sich nicht mal die Lateinlehrer trauten, ihre Sprache zu sprechen. Bisher jedenfalls. Annedore Beelte

Weitere Führungen am 14.03., 17 und 19 Uhr sowie auf Anfrage