Lieber Burn-out als einen freien Sonntag

ERFÜLLUNG In „Die erschöpfte Gesellschaft“ will der Psychologe Stephan Grünewald den Ursachen einer Visionslosigkeit auf den Grund gehen

Spannend die Analysen, in denen er konkret die Denkfallen des Machbarkeitswahns aufzeigt

Bücher über Muße, innere Einkehr oder „Downshifting“ liegen im Trend. Fast jeder zweite deutsche Arbeitnehmer klagt inzwischen über zu viel Termindruck und unbezahlte Überstunden. Trotzdem stürzen sich die meisten von uns auch in ihrer Freizeit noch in Aktivitäten. Ein Leben im Hamsterrad, das seinen Tribut fordert und immer häufiger im Burn-out endet. Also in der totalen Erschöpfung, die in unserer Optimierungsgesellschaft aber bezeichnenderweise einen positiven Klang besitzt. Nur wer einen Burn-out hat, heißt es, habe auch wirklich für seine Sache „gebrannt“.

Der psychische Zusammenbruch avanciert auf diese Weise geradezu zur „Tapferkeitsmedaille“ des modernen Fleißarbeiters, schreibt der Kölner Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald in „Die erschöpfte Gesellschaft“. „Die Frage, ob unser Tag erfolgreich, befriedigend oder erfüllend war, macht sich nicht an der Qualität der geleisteten Arbeit fest, sondern am Ausmaß unseres eigenen Ausgelaugt- und Gestresstseins.“ Der einstige Werkstolz sei dem „Erschöpfungsstolz“ gewichen. Auch, weil die modernen Arbeitsprozesse immer fragmentierter werden. Die Folge: Immer mehr Berufstätige flüchten sich in die „besinnungslose Betriebsamkeit“.

Ruhig durchschnaufen

So ganz neu klingt das nicht. Der Soziologe Hartmut Rosa etwa warnt ebenfalls schon länger vor einer allzu beschleunigten, allein nach Effizienz strebenden Maximierungskultur ohne identitätsstiftende Rückkopplung. Und nicht nur gestresste Fernsehpromis warten neuerdings mit mahnenden Burn-out-Beichten auf und raten dringend zu Muße und Langsamkeit.

Grünewald tut in „Die erschöpfte Gesellschaft“ nun nichts anderes. Nur, dass er als Psychologe lieber die seelenerquickende Kraft des Träumens preist, als ausgleichendes Korrektiv zum vorherrschenden Pragmatismus. „Unsere Gesellschaft leidet nicht an Schlafdefizit, sondern an einem Traummangel“, bilanziert er. Seine Tipps zum schöpferischen Durchschnaufen klingen eher altbacken: öfter mal vor sich hin dösen, gemeinsam frühstücken und ein ganz freier Sonntag. Ob das schon ausreicht?

Sehr viel spannender lesen sich da im Buch Grünewalds Analysen, die auf 7.000 Tiefeninterviews mit Berufstätigen beruhen – und in denen er ganz konkret die Denkfallen des heutigen Machbarkeitswahns aufzeigt. Sei es die Selbstüberforderung vieler berufstätiger Mütter, für die sogar der Supermarkteinkauf schnell zur „Optionshölle“ wird. Oder der Protest gegen Stuttgart 21, in dem auch eine unbewusste Angst vor sozialem Abstieg mitschwang. Sei es die Frühvergreisung der jungen Generation Biedermeier, die dank ständig neuer Krisenberichte primär auf Sicherheit setzt. Oder die dazu kontrastierende Forever-Young-Maxime vieler 68er, die einfach nicht alt werden können.

In diesen Befunden erweist sich Grünewald als genau beobachtender und süffisant kommentierender Gesellschaftspsychologe, der die Liberalität der Gesellschaft kritisch hinterfragt. Denn so tolerant sich die Berliner Republik einerseits auch gern gegenüber Minderheiten gibt, so rigide tabuisiert sie doch andererseits jedes Verhalten einer scheinbaren Ineffizienz.

Egal, ob Träumen, Trauern, Zweifeln oder Kranksein – ja, selbst der pure Lebensgenuss wird als angeblich unproduktive Zeitverschwendung heute zunehmend suspekt. Das beweist nicht zuletzt der kollektive Kreuzzug gegen Raucher und Übergewichtige. GISA FUNCK

Stephan Grünewald: „Die erschöpfte Gesellschaft“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2013, 187 Seiten, 19,99 Euro