„Opfer müssen gehört werden“

INTERVIEW DIRK KNIPPHALS

taz: Herr Willemsen, es gibt viele schlimme Orte auf der Welt, von Darfur über Tschetschenien bis hin nach China. Der Ort, der derzeit aber paradigmatisch für Menschenrechtsverletzungen steht, ist Guantánamo. Michael Winterbottom hat einen viel beachteten Film zu diesem Thema gemacht, Sie haben in diesen Tagen Ihren Interviewband publiziert. Was hat dieses Lager, was die anderen Lager nicht haben?

Roger Willemsen: Es liegt im Westen. Deutschland ist letztlich durch die Amerikaner demokratisiert worden, was wir uns zu vielen Gelegenheiten auch immer wieder selbst bewusst machen. Nun aber definieren die USA den Begriff des Exterritorialen. Dieser an sich freie Staat verkündet: Bis hierhin reicht, was wir rechtsstaatlich nennen, und da schaffen wir uns einen Ort, an dem wir alles tun dürfen, was uns laut unserer eigenen Verfassung eigentlich verboten ist. Dass muss für uns Deutsche ein Skandal sein.

Bezeichnet das auch Ihre persönliche Motivation zu Ihrem Buch?

Zum Teil sicherlich. Zwei weitere Überlegungen kommen hinzu. Zum einen wurde ich mithilfe von Literatur, Kunst, Philosophie und aller Konsequenz, die das fordert, zum klassischen Humanismus erzogen. Musil und Godard sind da wichtige Stichwortgeber. In dieser Kontinuität hätte es geradezu etwas Entfremdetes, wenn mich Humanität zwar in Texten interessierte, aber nicht außerhalb von ihnen. Insofern bleibt für mich Guantánamo ein Massiv der Empörung.

Ein nur theoretischer Humanismus ist keiner?

Genau. Mich nicht einverstanden zu erklären ist, zugegebenermaßen pathetisch formuliert, das moralische Ansinnen hinter meiner Anstrengung mit diesem Interviewband. Zum anderen glaube ich, dass man in Deutschland Vergangenheitsbewältigung nicht nur als Beschäftigung mit Hitlers Poesiealbum oder Hitlers letzten Stunden oder was es da im Universum eines Guido Knopp so alles geben mag abbuchen kann. Vergangenheitsbewältigung ist doch nur dann verbindlich, wenn sie aus der Glocke des Historischen heraustritt und die Gegenwart mit einbezieht.

Wie beim Humanismus: Man muss sie anwenden?

Bitte glauben Sie keine Sekunde, ich zöge hier eine Parallele zwischen den USA und dem Nationalsozialismus. Aber eine strukturelle Bemerkung muss ich jetzt machen. Hitler hat einmal in einem merkwürdig klarsichtigen Satz, über den ich mich immer gewundert habe, gesagt: Ich habe die Demokratie mit ihren eigenen Regeln zur Strecke gebracht. Von dieser Einsicht aus lohnt es sich, in allen Staaten, ganz egal, wie human sie verfasst sind, auf die Stellen zu schauen, an denen sie sozusagen umkippen können.

Guantánamo markiert einen solchen Kipppunkt für die USA?

Natürlich. Alle rechtsstaatlichen Prinzipien werden dort verleugnet, was die Bush-Regierung im Übrigen auch implizit zugibt, indem sie verkündet, die Genfer Konvention werde dort zum Teil eingehalten. Kommt immer noch drauf an, wie groß der nicht eingehaltene Teil ist. Das ganze amerikanische Denken rund um Guantánamo ist schon ziemlich extrem.

Zeigt Guantánamo für Sie so etwas wie die Wahrheit des amerikanischen Systems?

Ich würde es so formulieren: Das Lager zeigt die schlechtesten Entwicklungsmöglichkeiten, die auch ein demokratischer Staat wie die USA besitzt.

Nun gibt es auch in den USA massive Kritik an Guantánamo. In düsteren Fernsehserien wie „24“ werden den Amerikanern zudem die eigenen Leute als Folterer vorgeführt. Glauben Sie an die Selbstheilungskräfte des amerikanischen Systems?

Ganz und gar nicht. Im Gegenteil fürchte ich eher, dass durch die weichen Zonen der Gesellschaft – dazu gehört die Unterhaltungsindustrie – schon Bewusstseinsprozesse eingeleitet werden, in denen ernsthaft über die Anwendbarkeit von Folter nachgedacht wird.

Kann man als Europäer überhaupt Guantánamo verstehen? Man hat doch schon Probleme, zu begreifen, was die Amerikaner überhaupt mit so einem Lager wollen. Was ist die Rationalität hinter diesen offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen?

Ich komme nur auf eines, und es ist auch eine recht einfache These. Ich glaube, dass Guantánamo ein symbolischer Ort ist, und ich glaube, dass dieser Ort gebraucht wird, weil er es ermöglicht, zu sagen: Dort sitzen die Schuldigen.

Aber das glaubt doch niemand.

Ich bin mir da nicht so sicher. Außerdem: Man braucht nur den Gestus. Man braucht nicht die Schuld. Es ist für die Vereinigten Staaten ja schwierig, einen Erfolg im Kampf gegen den Terror vorzuweisen. Mit Guantánamo kann man dieses Dilemma mit dem Hinweis beantworten: Wir haben einen Work in Progress, wir arbeiten dran.

Sie haben mit ehemaligen Häftlingen des Lagers gesprochen, also mit Augenzeugen. Was leistet das, um die Realität Guantánamos zu verstehen? Schließlich lernt man in jedem Krimi, dass Augenzeugen nicht in allen Fällen zu trauen ist.

Einspruch! Das russische Sprichwort „Er lügt wie ein Augenzeuge“ habe ich sogar als Motto eines meiner Bücher verwendet. Aber ein Augenzeuge ist etwas anderes als ein Opfer. Bei meinen Gesprächspartnern haben wir es mit Opfern zu tun, und dazu gehört nach unserem Rechtsverständnis essenziell: Opfer müssen gehört werden. Das folgt allein schon aus der klassischen Maxime für Gerichtsverfahren: „Altera pars audiatur“ – man möge die andere Seite hören. Außerdem haben diese Menschen genau das, was allen Berichten bislang fehlt, nämlich die eigene Anschauung. Wir haben kaum jüngere journalistischen Berichte, die aus erster Hand das Innenleben des Lagers dokumentieren. Wir haben keine medizinischen Berichte, weil das Rote Kreuz nichts sagt. Wir haben keine politischen Berichte. Die Mindestvoraussetzung, um Guantánamo diskutieren zu können, besteht doch darin, den Menschen zuzuhören, die davon betroffen waren. Das ist Basisarbeit.

Noch einmal etwas abgewandelt: Was bringt es Ihrer Meinung nach für die Debatte, die Opfer von Guantánamo zu befragen?

Der Zweck solcher Anstrengungen muss sein, Guantánamo erfahrbar zu machen, so schwer das auch ist. Es hat längst etwas Mythisches und ist umwabert von Gerüchten. Dem gegenüber muss man erst einmal Fakten schaffen, sosehr sich dieses Lager auch der Vorstellbarkeit entzieht. Ihre Frage würde man in keinem anderen Fall stellen. Bei jedem Zirkusbesuch würde man sagen, man sollte lieber da gewesen sein, wenn man über ihn schreibt.

Wie weit konnten Sie die Aussagen Ihrer Interviewpartner überprüfen?

Wir haben sie nachrecherchiert, so gut es geht. Mit der ausgezeichneten Guantánamo-Studie von David Rose ließ sich vieles abgleichen. Nicht nachprüfen konnten wir natürlich, ob meine Gesprächspartner, wie von ihnen behauptet, aus Interesse am Islam nach Afghanistan gegangen sind, bevor sie von den Amerikanern gefangen genommen wurden, oder ob sie sich nicht doch den Taliban anschließen wollten.

Sie nehmen sich selbst in dem Buch sehr zurück. Gleichwohl gibt es in den Gesprächen lenkende Hinweise oder Fragen von Ihnen. Bekommen Sie so nicht nur das heraus, was Sie herauskriegen wollten?

Zunächst: Die Beobachtung, dass ich versucht habe, das Buch so unbrillant wie möglich zu machen, stimmt. Ich schreibe auch keine Widmungen rein. Es ging ja vor allem darum, meine Gesprächspartner wieder in den Besitz ihrer eigenen Erfahrungen zu bringen. Dazu gehört, dass ich alle fünf immer wieder auf die Spur dieser Erfahrungen setzen musste. Ja, es gibt in diesem Buch suggestive Fragen. Aber damit fädelt man die Gesprächspartner auf eine Spur ihrer Erfahrung ein, die da ist, die sie aber selbst nicht abrufen können.

Das klingt ein Stück weit wie ein therapeutischer Prozess.

An dem kommt man nicht vorbei. Zumal wenn Ihnen klar ist, dass alle diese Interviews immer eine Nähe zum Verhör haben. Ich habe wortidentisch Dinge gefragt, die die Amerikaner auch gefragt haben.

Vieles, was man aus diesen Gesprächen erfährt, ist überaus empörend. Warum aber haben sich zuletzt die Proteste in der muslimischen Welt an für viele Westler eher banalen Karikaturen entzündet? Wäre es nicht viel einleuchtender, wenn sie sich an Guantánamo oder Abu Ghraib entzünden würden? Dafür hasst sich der Westen doch selbst.

Es klingt plausibel, was Sie sagen. Aber letztlich erweisen sich die symbolischen Diskurse eben doch als die gefährlicheren. Ein indonesischer Muslim beispielsweise wird sich durch die Gefangenen von Guantánamo möglicherweise nicht repräsentiert fühlen. Aber jeden einzelnen gläubigen Muslim betrifft die Missachtung seines Glaubens. In Guantánamo wollten sich an einem Tag 28 Gefangene das Leben nehmen; ihr Koran war vor ihren Augen ins Klo geworfen worden. Diese Beschämung können wir vielleicht nicht wirklich verstehen. Wobei ich im Laufe meines Lebens im Umgang mit Religionen immer zögerlicher geworden bin. Über die Haltung von Menschen, die ihre Transzendenz suchen, mache ich keine Witze, auch wenn mir diese Haltung selbst nicht gegeben ist. Und dann: Was will man einem Menschen entgegenhalten, der aus Guantánamo kommt und sagt: Ich habe es überlebt, weil ich an den Koran glaube?