Kein Projekt, aber eine Chance

Die Grünen lehnen die bürgerlichen Werte in ihrer Rhetorik ab, leben sie aber …… bei den Schwarzen ist es dagegen umgekehrt, so könnte man sagen

VON PAUL NOLTE

Koalitionsbildungen haben in der Geschichte der Bundesrepublik eigentlich immer den Geschmack des Bedeutungsschweren, des Grundsätzlichen gehabt. Man tut sich nicht einfach aus Pragmatismus zusammen: um konkrete Vorhaben umzusetzen, für die es eine Schnittmenge zwischen den Partnern gibt, oder auch nur, um an die Macht zu kommen, um selber zu regieren statt in der Opposition zu verharren.

Historisch gesehen, ist das ein Reflex auf die Instabilität vieler Koalitionsregierungen in der Weimarer Republik. Es hat aber wohl auch mit einem typisch deutschen Zug ins Ideologische zu tun. Oder anders gesagt: In jeder Koalitionsregierung soll sich eine „List der Geschichte“ offenbaren, die ein „Projekt“ von höherer Notwendigkeit durchsetzt. Wie diese Erwartungen funktionieren, aber auch enttäuscht werden können, dafür bot die im letzten Jahr zu Ende gegangene rot-grüne Koalition ein Musterbeispiel. Solcherlei Erwartungen sind auch im Spiel, wenn über die schwarz-grüne Option diskutiert wird, und sie verleihen den Debatten über Schwarz-Grün in Deutschland seit jeher etwas Nervöses: Wenn sich schon zwei Partner zusammentun, die so verschieden sind, dann muss dahinter ja erst recht ein höherer Sinn stecken. Aber welcher könnte es sein?

Die Zeit der hitzigen schwarz-grünen Spekulationen ist längst vorbei. Aber gerade darin liegt inzwischen die Chance: Man geht nüchterner miteinander um, weil man sich besser kennen gelernt hat und übersteigerte Ängste oder totale kulturelle Fremdheitsgefühle abgeschmolzen sind.

Es geht für beide Seiten, ganz nüchtern, nicht zuletzt um zusätzliche Optionen in einem Parteiensystem, das die Regierungsbildung in Zukunft schwieriger machen könnte. Die Grünen können nicht allein auf die SPD, die Unionsparteien nicht allein auf die FDP fixiert bleiben. Angesichts der wachsenden Popularität großer Koalitionen ist die Situation für die Grünen sogar prekärer als für die Schwarzen. „Schwarz-grünes Projekt“? Nein, es geht auch eine Nummer kleiner, und dieser neue Pragmatismus wird in kommunalpolitischen Konstellationen längst schon vorgeführt.

Und dennoch: Man sollte schon wissen, mit wem man es zu tun hat und was die Voraussetzungen gemeinsamer Politik sein könnten. Gibt es überhaupt programmatische Schnittmengen und nicht vielmehr einen langen Katalog von Unvereinbarkeiten? Die schroffen Gegensätze aus den Achtzigerjahren, auch noch den Neunzigerjahren haben sich habituell entschärft. Kein schwarzer Ministerpräsident müsste wohl mehr einen grünen Turnschuhträger vereidigen – er würde eher neidisch auf den eleganten Dreiteiler seines Gegenübers blicken. Sie haben sich aber auch in der Sache entschärft: nicht im Sinne der einseitigen Vorleistung einer Partei, die in der Sicht der anderen „endlich zur Vernunft gekommen“ wäre, sondern als ein Lernprozess, der beiden Seiten einiges abverlangt hat. Sogar im Bereich des Infrastrukturausbaus und des Wirtschaftswachstums sind die echten Konflikte geringer geworden. Die Grünen sind keine Partei der Maschinenstürmer und der Autohasser; über wichtige Projekte lässt sich ein Konsens finden; und der CDU täte eine Debatte über ein neues „qualitatives“ Wachstum durchaus gut. Die Wirklichkeit hat sich verändert und mit ihr die Aufgaben für beide Parteien: Innovationsfähigkeit und Arbeitsplatzsicherung stehen ganz anders auf der politischen Agenda als noch in den Achtzigerjahren.

Gut, das erleichtert eine Verständigung, aber es ist noch nichts spezifisch Schwarz-Grünes, denn kapitalistische Industriepolitik betreibt in den Ländern und Kommunen auch die PDS. Was haben CDU und Grüne möglicherweise gemeinsam, was anderen Parteien fehlt oder doch schwerer fällt? An erster Stelle könnte ein neues Konzept von Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik stehen: Familie, Bildung, die aktivierende Stützung von Menschen am Rande der Gesellschaft. CDU wie Grüne sind Parteien in sozialer Verantwortung, die nach Wegen der Förderung und Unterstützung jenseits des klassischen Sozialstaats suchen. Beide könnten aus ihrer Skepsis gegenüber einem allzuständigen Staat, aus ihrer (unterschiedlich begründeten) Vorliebe für dezentrale Ansätze neue Ideen produzieren – gewissermaßen die Synthese aus Basisdemokratie und Subsidiarität. Beide wissen sehr gut, dass über die Finanzierung öffentlicher Leistungen neu nachgedacht werden muss: im Sinne einer nachhaltigen Finanz- und Haushaltspolitik, bei der inzwischen eher die Grünen die Union zur Strenge mahnen würden als umgekehrt.

Diese programmatische Schnittmenge kommt nicht von ungefähr. Sie führt durchaus auf einen Überlappungsbereich des Selbstverständnisses zurück. Parteien von „Individualisten“ statt von „Kadern“ treffen aufeinander. Die Grünen sind die Kinder des Bürgertums und als Partei eine weithin bürgerliche Gruppierung geworden – trotz ihrer erstaunlichen sozialen Integrationskraft, die sich einem kulturellen Identitätsgefühl verdankt.

Falls sich die Linkspartei/WASG auch im Westen etabliert, dürfte das die Verbürgerlichung der Grünen eher noch befördern. Zumal in Baden-Württemberg sind die Grünen eigentlich immer schon eine bürgerliche Partei gewesen. Die Grünen lehnen die bürgerlichen Werte in ihrer Rhetorik ab, leben sie aber in Wirklichkeit – bei den Schwarzen ist es dagegen umgekehrt: So könnte man fast versucht sein zu sagen. Doch auch die CDU hat in letzter Zeit ihre gesellschaftspolitischen und kulturellen Leitbilder der Realität – auch der Realität in der eigenen Partei – angepasst.

Bei einem Abschluss eines schwarz-grünen Koalitionsvertrags würde keine der beiden Parteien ihre Identität aufgeben; ein Vereinigungsparteitag steht nicht auf dem Terminplan. Das Ergebnis soll ja nicht und wird nicht ein linksbürgerlicher, wertkonservativer, halbökologischer Einheitsbrei sein – obwohl es genügend Wählerinnen und Wähler in allen Altersgruppen gibt, auf die genau dieses Profil zutrifft! Ein Bündnis wäre für beide die Chance, Denkblockaden und kulturelle Barrieren zu überwinden, aber auch, ihr eigenes Profil am Partner und Gegner zu schärfen. Von einer schwarz-grünen Koalition sollte man besser nicht die Rettung Deutschlands oder Ähnliches erwarten. Aber vielleicht doch einen Schritt nach vorn, und einen Gewinn für die politische Kultur des Landes.