Der eine Blick

KURZGESCHICHTE Eine selbstgedrehte Zigarette bringt zwei einsame Menschen zusammen. Sie treffen sich zufällig auf einer Parkbank

Dann hatte sie einen Kubaner kennengelernt und seine Muskeln, wie sie tanzten, mehr als amazing, eine Provokation

VON THOMAS FEIX

Philipp ging auf den Mittelstreifen hinüber und setzte sich auf die Bank, die im Schatten der Linde war. Die andere Bank, meterweit davon entfernt, war im Mittagssonnenschein. Vierspurig trieb der Verkehr beidseits vorüber. Eine Viertelstunde hatte Philipp, dann musste er ins Büro zurück. Wieder über die Straße, in die Behörde hinein, hinter eines der Fenster, Rundverfügungen aller Ämter der Stadt fürs Archiv abheften, hausinterne Schreiben, die niemand las. Auch Philipp las sie nicht.

Er sah viel zum Fenster hinaus auf die Straße, er blickte vom ersten Stock aus hinunter auf die Autos, die vorbeifuhren, auf die Menschen, die vorbeigingen. Dabei sah Philipp manchmal Frauen, die ihm gefielen, und er träumte von ihnen, während die Papiere durch seine Finger glitten und durch die Maschine, die die Löcher zum Abheften machte. Von den Gesichtern und Formen der Frauen träumte er. Er war glücklich über die Träume und darüber, dass es immer wieder neue waren, mit jeder Frau, die unten vorbeiging und ihm gefiel.

Es gab Frauen in der Behörde, aber keine unter ihnen, mit der er zusammengekommen wäre. Die, die ihm gefielen, hatten einen Freund, einen Ehemann, oder sie hatten für Philipp nichts übrig. Alle die Frauen, die ihm in der Behörde gefielen, hatte er angesprochen. Sie hatten mit ihm geredet, sie hatten ihn angesehen, aber nicht mit dem einen Blick. Seit fünf Jahren war das so, seit er in der Behörde angefangen hatte und Rundverfügungen abheftete.

Und doch hatte er vor Monaten eine Frau gekannt. Er war Lana auf einer Afterworkparty begegnet. Jeden Donnerstag war er zur Afterworkparty in der einen Bar.

Fotografin war Lana, Amerikanerin, für ein Jahr in der Stadt, und die Zeit ihres Aufenthaltes war fast um gewesen. Sie fand alles amazing. Auch das Beisammensein mit Philipp, und er hatte Pläne für ein Leben zusammen mit ihr gemacht.

Es hielt nicht, es ist bald aus gewesen, aus, bevor mehr zwischen ihnen war. Zweimal waren sie miteinander durch die Straßen rund um Philipps Wohnung herum gegangen. Beide Male hatte er gedacht, dass sie mit zu ihm in die Wohnung mitkommt.

Klein war Lana, zierlich, gerade Schultern, genau Philipps Typ. Aber dann hatte sie bei einem Fototermin einen Kubaner kennengelernt und seine Muskeln, wie sie tanzten, mehr als amazing, eine Provokation, und Lana war ihr sofort erlegen gewesen. Philipp dachte jetzt an sich selbst, an die Rundverfügungen, die er abheftete, an die Hemden, die er trug, kurze Ärmel und weit geschnitten, und er sagte sich, das war klar. Wenn man so angezogen ist, so weißhäutig und so schmal wie ich und so dünnhaarig. Er saß auf der Bank, und Lana war schon lange wieder in Amerika. Er sah sich um, so als wüsste er nicht, dass außer ihm niemand auf dem Mittelstreifen war. Dann erblickte er die Kollegin. Vom Eingang der Behörde kam sie her, in der sie beide angestellt waren, sie seit einem Vierteljahr erst.

Wie Philipp kam sie vom Essen in der Kantine, und wie er wollte sie draußen sein, ehe sie wieder im Büro sein würde, hinter einem der Fenster, die nicht zu öffnen waren. Sie sah ihn auf der Bank unter der Linde und wie er zu ihr herübersah. Sie grüßte ihn, als sie den Mittelstreifen betrat, und er grüßte sie mit demselben kurzen Nicken zurück. Ach die, dachte er und verschränkte die Arme vor der Brust, hoffentlich kommt die jetzt nicht hierher zu mir.

Sie hatten ihre Büros auf einem Flur. Sie verwaltete Akten, die ebenso wenig von Interesse waren wie die Dokumente, die er bearbeitete. Einmal hatten sie und er sich nach einer Abteilungsversammlung über Dienstliches miteinander unterhalten.

Sie war eine von den Frauen in der Behörde, die ihm nicht gefielen. Groß war sie, so groß wie er, eins achtzig, sie schlenkerte mit den Gliedern, war immer ungeschminkt, blasses, schüchternes Gesicht. Nicht die Art von Frau, die sich Philipp als Partnerin für sich ersehnte. Er sah sie immer allein, auf dem Flur, in der Teeküche, in der Kantine, nie dass jemand sie zum Feierabend am Portal unten erwartet hätte. Das wurde Philipp jetzt bewusst. Sie kam nicht zu ihm her, sie hatte das Abweisende seiner Geste ihr gegenüber bemerkt. Er beobachtete sie. Wie die geht, dachte er, wie die geht.

Sie setzte sich auf die Bank im Sonnenschein und holte Tabak und Zigarettenpapier aus der Tasche ihrer Jeans hervor. Sie drehte mit geschickten Fingern.

In dem Moment fielen Philipp ihre Augen ein. Als sie gelacht hat, haben sie mitgelacht. Das hatte er bei der einen Unterhaltung mit ihr festgestellt. Bestimmt hat sie eine Zigarette für mich, so eine, wie sie da eine hat, überlegte er sich. Er würde zu ihr hinübergehen und sie danach fragen. Er ließ die Arme sinken, stand auf, und sie spielte mit der Zigarette in der Hand. Ihr und sein Büro waren nicht nur auf einem Flur, sie waren auch auf derselben Stufe der Hierarchie. Kein Chef, der ihre Arbeit kontrollierte, keiner, der für sie zuständig zu sein schien. Ihr Vorname, dachte Philipp, sie hatte ihn mir genannt. Edeltraud, Brunhilde, Cordula? „Gundula“, sagte er, er hatte sie und die Bank erreicht. Er kniff ein Auge zusammen und wollte von ihr wissen, wie es ihr geht. Sie sagte ihm, wie es ihr geht, ausgezeichnet. Gar nicht schüchtern die Stimme, geradeheraus, er hatte vergessen, dass sie so war.

Gundula hatte die Sonne im Rücken, Philipp schien sie ins Gesicht, und er kniff auch das andere Auge zusammen, er verkrampfte sich. Weglaufen hätte er mögen. Zu spät, der Anfang wollte fortgeführt sein. Dass es schön in der Sonne ist, sagte er deshalb zu ihr. Dazu sagte sie nichts, sie sah ihn an, vielleicht wartete sie das ab, was als Nächstes von ihm kam. Er blickte sich in die Richtung um, aus der er eben gekommen war. Aber da waren nur die Bank, die Linde und der Schatten, der von der Linde kam. Fünfzig Meter der Mittelstreifen in der Länge, da war nichts sonst, und beidseits trieb der Verkehr vorbei. Philipp wandte sich ihr wieder zu. Sie blinzelte, obwohl sie keine Sonnenstrahlen ins Gesicht trafen, und er suchte ihre Augen in dem Blinzeln, um das Heitere in ihnen wiederzuerblicken. Schnell sagte er zu ihr, dass er gern so eine hätte, wie sie da eine hat, und deutete auf die Selbstgedrehte in ihrer Hand.

Sie hörte mit der Zigarette zu spielen auf. „Setz dich zu mir“, sagte sie zu ihm und rückte zur Seite. Platz für ihn wäre genug auf der Bank gewesen, dennoch rückte sie zur Seite. Er setzte sich neben Gundula hin und hatte nun wie sie die Sonne im Rücken, er entspannte sich.

Gundula reichte ihm die Zigarette zum Halten, griff zu Tabak und Papier auf ihrem Schoß und begann erneut damit zu drehen. Er sah ihr dabei zu. Ach die, hatte er noch vor Augenblicken über sie gedacht. Keine wie Lana, dachte er jetzt, aber ich bin auch nicht wie der Kubaner. Gundula und Philipp zündeten sich die Zigaretten an, und sie erzählte ihm gleich vom Ex. Das hätte er nicht gedacht, dass sie einen Ex hat. Sie erzählte davon, dass er sie mit ihrer einzigen Freundin betrogen hatte, die sie gehabt hat, und Philipp wunderte sich darüber, dass es so etwas gibt, das hätte er ebenfalls nicht gedacht. Dann dachte er an Lana und wie sie sich des Kubaners wegen nicht mehr mit ihm getroffen hatte. Da hätte er auch nicht gedacht.

Die Pause war vorbei. Sie traten die Zigaretten aus, gingen nebeneinanderher den Mittelstreifen hinunter und passierten dabei die Bank im Schatten der Linde. Über die Straße durch den Verkehr und in die Behörde hinein, und währenddessen hatte Philipp das Empfinden, dass seine und Gundulas Hand zueinanderstrebten.