Rendite und Ranküne

INDUSTRIE Siemens gilt als der deutscheste aller deutschen Großkonzerne. Doch nun könnten Gewinnsucht und Machtspiele die Arbeit von 165 Jahren zunichte machen

Der Industriekoloss steckt in einer tiefen Sinnkrise

AUS MÜNCHEN K. ANTONIA SCHÄFER

Es ist der vorläufige Höhepunkt des Führungsdramas bei Siemens: Bei der Aufsichtsratssitzung am heutigen Mittwoch sollen 15 Männer und 5 Frauen entscheiden, ob Konzernchef Peter Löscher sein Amt aufgeben muss. Doch es geht nicht nur um einen Vorstandschef, der binnen drei Monaten zweimal seine Gewinnerwartungen nach unten korrigieren musste – das war jedenfalls der Auslöser für die Demission. Die aktuelle Krise ist symptomatisch für Siemens.

Glaubt man Löschers offiziellen Aussagen, hat er seinen Widerstand gegen die Entlassung aufgegeben. Immerhin soll in den kommenden zwei Jahren das Gehalt des Österreichers fortgezahlt werden, mindestens neun Millionen Euro.

Jetzt wird spekuliert, wie sich Siemens nach Löschers Abschied aufstellen will. Dass der bisherige Finanzchef Joe Kaeser neuer Konzernchef wird, gilt als so gut wie sicher. Unklar ist hingegen, ob auch Aufsichtsratschef Gerhard Cromme gehen muss. Andere Aufsichtsräte sollen kritisiert haben, dass Löschers Amtsenthebung als „Putsch“ empfunden wurde. Auch Josef Ackermann, Ex-Deutsche-Bank-Chef und Siemens-Aufsichtsratsvize, soll sich in diese Richtung geäußert haben. Allerdings wohl nicht ganz uneigennützig: Er soll Ambitionen auf die Nachfolge Crommes haben.

Doch hinter den Rankünen offenbart sich die tiefe Sinnkrise, in der der Industriekoloss steckt. Zwar sind die Zahlen halbwegs vorzeigbar, der Aktienkurs relativ stabil, Siemens das nach Beschäftigten größte deutsche Unternehmen. Doch die Chefs des 370.000-Mitarbeiter-Konzerns haben versäumt, auf ihrer Suche nach immer mehr Rendite den Konzern und seine Mitarbeiter mitzunehmen. Dabei war Siemens lange dafür berühmt, die eigenen Leute wie eine Familie zu behandeln.

Es ist das vielleicht deutscheste aller deutschen Unternehmen. Vor 165 Jahren wurde Siemens als Telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske in Berlin gegründet. Ziel war schon damals, so heißt es auf der Firmen-Webseite, ein „Weltgeschäft à la Fugger“ zu werden. Um die Kontrolle zu behalten, lehnte Gründer Werner von Siemens stets eine Aktiengesellschaft ab. Erst nach seinem Tod im Jahr 1892 wurde Siemens zur AG.

Die Historiker Cornelia Rauh und Hartmut Berghoff haben im Auftrag von Siemens die Konzerngeschichte seit 1981 aufgearbeitet – wissenschaftlich unabhängig, wie sie betonen. Zur aktuellen Lage wollen sie sich nicht öffentlich äußern. In einem Interview im Dezember sagte Berghoff, der Konzern habe sich in den vergangenen 30 Jahren „so stark gewandelt, dass er trotz aller Kontinuität an manchen Stellen kaum wiederzuerkennen ist“.

So belieferte Siemens jahrelang exklusiv die Bundespost, ein fantastisches Geschäft, alle westdeutschen Haushalte hatten ein Siemens-Telefon. Auch für die Angestellten war das Leben komfortabel, sagt Berghoff: „Das war nah am Beamtentum.“ Ab den 80ern wurden Telekommunikation und andere Sektoren privatisiert, Siemens musste sich zunehmend dem Wettbewerb stellen.

Als die Finanzmärkte an Bedeutung gewannen, versprach Siemens 1998 in einem Zehnpunkteplan, sich künftig stärker an den Aktionären auszurichten. Schließlich wurde nach der Korruptionsaffäre 2007 mit Löscher zum allerersten Mal kein Eigengewächs als Siemens-Chef ausgewählt. Ihm fehlte nicht nur der Stallgeruch, Löscher schaffte es auch nicht, Siemens auf die Zukunft auszurichten.

Kritiker monieren, statt strategischer Entscheidungen habe er auf Kosten der Beschäftigten kurzfristig die Rendite verbessern wollen. Tatsächlich lag die Umsatzrendite unter dem langjährigen Chef Heinrich von Pierer meist bei etwa drei Prozent. Löscher hingegen versprach immer neue Höchststände, zuletzt zwölf Prozent – die der Konzern jedoch nicht erreichen wird. Er habe immer neue Hoffnungen geschürt – und dann enttäuscht, heißt es aus Insider-Kreisen.

Auf dem neuen Chef lasten hohe Erwartungen. Er soll dem Konzern seine Identität wiedergeben – und ihn langfristig ummodeln. Allerdings: Kaeser hat die alten, fatalen Entwicklungen mitgestaltet. Ob er das Ruder herumreißen kann, halten viele Beobachter für fraglich.