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HAPTIK Während im Ausland erste iPad-Schulen eröffnen, sind neue Medien in Deutschlands Bildungsprogrammen noch selten. Wachsen Kinder anders auf, wenn sie früh auf Tablets wischen? Und falls ja: Ist das schädlich?

■ Kinder: Laut Statistischem Bundesamt können 17 Prozent der Kinder zwischen zwei und fünf Jahren in Deutschland eine App bedienen. In den USA sind es 30 Prozent. Die ersten iPad-Schulen, die in den Niederlanden eröffnen, verzichten auf Klassenzimmer und Ferien. Lehrer, Kind und Eltern legen sich stattdessen auf Lernperioden fest.

■ Tablets: In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden 1,2 Millionen Tablets verkauft – erstmals nahezu so viele wie Laptops. Vergangenes Jahr nutzten knapp 10 Millionen Menschen in Deutschland ein Tablet. Den größten Anteil am Tabletmarkt hat erwartungsgemäß Apple: 2010 waren es fast 90 Prozent.

VON SEBASTIAN KEMPKENS
(TEXT) UND WOLFGANG BORRS (FOTOS)

Diorellys und ihr Mann Daniel sind ehrgeizige Eltern. Was die Bildung ihrer Kinder angeht, hatten sie lange einen genauen Plan. Das iPad war Symbol und Grundlage dieses Plans – ein Gerät, das ihren Kindern Wissen vermitteln sollte, das die Eltern selbst nicht haben. Apple war die Corporate Identity ihrer Erziehung. Dann geriet etwas ins Wanken.

Das Paar wohnt mit seinen drei Kindern im siebten Stock eines Neubaus in Berlin-Mitte. Ein Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer – und fünf iPads. Diorellys und Daniel erziehen ihre Kinder dreisprachig, auf Deutsch, Englisch und Spanisch. Die Tablets sollten dabei helfen, mit Sprachspielen und englischen Hörbüchern. So wie die Videos von Mister Maker helfen sollten beim Basteln von Papierelefanten oder Weihnachtsschmuck. Und schließlich hatte den Kindern auch erst das iPad erklären können, was in der Musik das Adagio bedeutet, nämlich das langsame, ruhige Spielen von Allens Geige.

Der Plan funktionierte, das Tablet bewährte sich, zumindest auf den ersten Blick.

Allen, Céline und Abby sind in Sachen iPad-Konsum sicher überdurchschnittlich. So viel mit Tablets spielen, wie sie wollen, dürfen die wenigsten Kinder. Und doch, schon heute gibt es in mehr als einem Viertel der deutschen Haushalte ein Tablet, zeigt eine Studie der Stiftung Lesen.

Der Absatz der Geräte steigt stetig. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden in Deutschland fast so viele Tablets wie Laptops verkauft. Bald werden Tablets die meistverkauften Computer sein, prognostiziert eine Statistik des US-Martkforschungsunternehmens Gartner. Die drei Kinder geben damit eine Art Blick in die Zukunft. Sie zeigen, was Tablets in der Erziehung leisten können und wo ihre Grenzen sind.

Und sie werfen eine Reihe von Fragen auf, die sich viele Eltern stellen: Wie sollen wir es mit den Tablets halten? Ab welchem Alter und wie lange täglich sind Touchpads für Kinder unbedenklich? Was überhaupt ist an ihnen bedenklich?

Fragen, die das Ende einer Zeit markieren könnten, in der der Computer auf einem Schreibtisch stand und minutenlang ratternd und knarzend startete. Eine Zeit, in der Kleinkinder drei Hände gebraucht hätten, um Strg-Alt-Entfernen zu drücken.

Heute müssen Eltern viel früher entscheiden, ob ihre Kinder nur im Wald oder auch auf dem Tablet nach Schätzen suchen dürfen und, wenn ja, wie lange jeweils. Können die Tablet-Kinder am Ende nicht mehr rückwärts auf einem Bein hüpfen, und die Wald-Kinder bekommen keine Jobs, weil sie medial den Anschluss verpasst haben?

Daniel, der Vater, sitzt am Tisch der Wohnküche und schaut auf das Sofa an der gegenüber liegenden Wand. Er überlegt vor jedem Satz kurz. Es ist das erste Mal, dass er mit einem Journalisten spricht, und er möchte alles richtig erklären. Daniel, 35 Jahre alt, handelt im Internet mit Apple-Produkten. Einmal hat er versucht, ins Apple-Hauptquartier im Silicon Valley zu gelangen, indem er einem Mitarbeiter durch die Pforte hinterherlief. Jemand von der Security rief ihn zurück, aber er mag die Geschichte: So nah war er dran am Entstehungsort seiner Ware, die er für ihr Design, ihre Perfektion bewundert. Seine Frau und die drei Kinder tragen T-Shirts der Firma, alle haben einen Apfel auf der Brust.

Als 2010 das erste iPad auf den Markt kam, war sein Sohn Allen, damals drei Jahre alt, in Deutschland einer der Ersten, die es in den Händen hielten. Daniel war extra in die USA geflogen, um das Tablet zu kaufen. Inzwischen hat auch Céline, seine dreijährige Tochter, ein eigenes iPad. Nur die einjährige Abby, Daniels Frau wäscht ihr gerade in der Küche die Hände, hat noch kein eigenes Gerät. „Ich will nicht, dass die Kinder bei den neuen Medien zurückbleiben“, sagt Daniel.

Sie sollen möglichst früh vorbereitet sein auf eine Welt, in der sie von Touchpads umgeben sein werden, in der es in Allens und Célines Kita schon ein Whiteboard gibt. Sogar Abby weiß inzwischen, wie man ein iPad entriegelt. Die beiden anderen gehen längst selbstverständlich mit den Geräten um. Wenn Allen keine Lern-Apps benutzt, spielt er meist: „Hay Day“, ein Bauernhof-Strategiespiel, bei dem er Schweine züchtet und Weizen anbaut. Das heißt, er spielte: Als auch sein Vater süchtig danach wurde und die beiden gemeinsam stundenlang auf dem Bildschirm herumwischten, schaffte er die App ab, sie verschlang zu viel Zeit.

Wie ein Lichtschalter: Man berührt – und aktiviert

Jetzt spielt Allen andere seiner etwa 200 Apps, zum Beispiel oft „Water?“, da muss er Tunnel buddeln, um ein Krokodil mit Wasser zu versorgen. Er hockt dann auf dem Sofa, die Beine angezogen, und ist ganz konzentriert. Céline spielt weniger. Und wenn, dann „Dress me up“. Puppen anziehen. Ansonsten lässt sie sich vom iPad lieber Bücher vorlesen, „CriedWolf“, „Shrek4Book“ oder „FoxAndTiger“. Sie sitzt erst auf dem Boden und spielt eine Puzzle-App. Dann schaut sie einen Film zur Hälfte an, schließlich malt sie mit dem Zeigefinger ein expressionistisch anmutendes Bild.

Auf YouTube gibt es unzählige Videos von Kindern wie Céline. Sie haben oft noch nicht gelernt, allein auf die Toilette zu gehen, wissen aber längst, wie sie die Tablets ihrer Eltern bedienen.

Noch nie konnten sich Kleinkinder so selbstständig mit einem Computer beschäftigen. Es reicht, zu wissen, wie das Gerät angeht. Der Rest erklärt sich fast von selbst. Etwas berühren, um es zu aktivieren – wie einen Lichtschalter. Die Finger auseinanderziehen, um Dinge zu vergrößern – fast wie mit Knete. „Manchmal brauche ich länger, um eine App zu finden, als Abby“, sagt ihre Mutter Diorellys.

Im deutschen iTunes, dem Onlineshop für Musik, Filme und Spiele, dürfte es weit mehr als 40.000 Apps speziell für Kinder geben, schätzen Entwickler. Welches wirtschaftliche Potenzial es hat, Tablets und Smartphones in den Kinderalltag zu integrieren, haben auch Unternehmen wie Fisher Price verstanden. Der Konzern bietet neben Apps Plastikrasseln an, in deren Mitte Eltern ein iPhone klemmen können. So etwas sei „ideal für kleine Entdeckerhände und bietet durch seine robuste Verarbeitung bei jedem virtuellen Abenteuer Schutz für das Gerät“.

Die Nachfrage, verkündet die Pressedame, sei riesig, genaue Zahlen dürfe sie natürlich nicht nennen. Erfindungen wie das kürzlich auf einer Hightechmesse in den USA vorgestellte „iPotty“ – ein Töpfchen für Kleinkinder mit integriertem iPad-Halter – wirken da nicht mehr wie eine abstruse Fantasie, sondern wie der nächste Schritt.

Bei so viel Technikverliebtheit wirft Martin Grunwald die Hände in die Luft, als wüsste er nicht, wohin mit seiner Verzweiflung. Grunwald ist Haptikforscher in Leipzig, er kennt die Geschichten von Tablet-begeisterten Eltern aus der eigenen Familie. Der 47-Jährige, ein freundlicher, drahtiger Mann, sitzt in seinem Büro in der medizinischen Fakultät, umstellt von Kartons und Ordnern, in der Ecke ein Skelett.

„Eltern“, sagt Grunwald, „flippen vor Begeisterung fast aus, weil ihre Kleinstkinder intuitiv eine Technologie beherrschen, die sie selbst gerade erst kennengelernt haben.“ Bemerkenswert findet er das nicht. Jedes Kind lerne, auf Dinge, die es haben möchte, zu zeigen und sie anzutippen. Das sei eine „Elementarform der Welterkundung und der Kommunikation mit den Erwachsenen“. Tablets machten sich das zunutze. „Sogar Affen können ein iPad bedienen“, sagt er. „Das können Sie ruhig so zitieren, habe ich mir extra zurechtgelegt.“

Vor allem aber macht es ihn wahnsinnig, wie sorglos Eltern, Lehrer und Erzieher mit Tablets umgehen. Grunwald ist sicher: Die Geräte können für Kinder alle möglichen Folgen haben, aber kaum gute. Der Psychologe ist kein Mann der neuen Medien, auf seinem Tisch liegt ein zerkratztes Nokia-Handy. „Hat ewig Akku“, bemerkt er, „ich will meinen Tagesablauf nicht nach den Batterielaufzeiten eines Telefons richten.“

Ein Tablet oder Smartphone würde er sich nie kaufen. Die Geräte, um die es geht, kennt er trotzdem, aus Studien, die er für die Hersteller gemacht hat. Eine seiner liebsten Anekdoten aus der Forschung ist die, in der Probanden mit verbundenen Augen Smartphones ertasten sollten. Einer hielt ein iPhone für eine Fischbüchse. „So viel zu der ach so tollen Haptik.“

Grunwald versteht sich als einsamer Kämpfer gegen die Touchscreentechnologie. Einer, der der Herde von Weitem zusieht, wie sie ins Verderben läuft. „Aber auf mich hört ja keiner“, sagt er, nur halb im Spaß.

Er kramt auf seinem Schreibtisch nach dem Pfeifentabak, kommt aber gar nicht dazu, die Pfeife anzuzünden. So wichtig ist ihm das Problem mit Tablets und Kindern – für ihn ein grundsätzliches. Das Tasten, sagt er, ist der fundamentalste Sinn des Menschen: Bindet man Säuglingen über Wochen die Augen zu, erblinden sie. Berührt man Säuglinge jedoch eine längere Zeit nach der Geburt nicht, können sie sterben. Das Tasten ist für die Entwicklung des Kindes entscheidend. „Kinder fangen schon im Mutterbauch an, sich anzufassen, ihren Körper zu erkunden. So geht das weiter, wenn sie auf der Welt sind.“

Der Mensch erschließt sich die Welt, indem er sie fühlt. „Deshalb heißt es ja ‚begreifen‘ und nicht ‚wischen‘ “, sagt Grunwald, die Pfeife noch immer unangezündet in der Hand.

Wenn Céline in Berlin auf dem Bildschirm ihres iPads ein Puzzleteil auswählt, verändert sich auf der haptischen Ebene nur so viel, dass es ein paar fettige Verschmierungen gibt. „Das entspricht nicht der Realität. Normalerweise verändert sich fast alles, wenn man es in die Hand nimmt“, sagt Grunwald. Er befürchtet, der Tastsinn könnte verkümmern, wenn Touchpad-Technologien die Kindheit prägen. Es gebe Studien zur ersten Playmobil- und Lego-Generation, da habe sich gezeigt: Wer als Kind viel Lego spielt, hat später in feinmotorischen Berufen Nachteile. Die Steine haben die gleiche Oberfläche, die gleiche Härte, ein ähnliches Gewicht. Wie das Tablet vermitteln sie ein falsches Bild der Realität. Dass die Geräte dennoch Potenzial als Lernmittel haben, bestreitet auch Grunwald nicht.

Es gibt Medienexperten, die das Aufkommen von Tablets mit der Einführung des Fernsehens in den fünfziger Jahren vergleichen. Ein großer Vergleich, der zu kurz greift. Gute Bildungsprogramme für Kinder zeichnen sich vor allem durch Interaktivität aus. Eine Eigenschaft, die nicht recht zum Fernsehen passt. Bei vielen Apps auf dem Tablet ist sie hingegen als Grundstruktur angelegt.

Wenn Allen auf dem iPad die Geschichten von „Thomas and Friends“ liest, gibt es neben dem Text immer eine aktive Bildschirmseite. Dort kann er die Lokomotive Thomas betanken oder ihr helfen, Rätsel zu lösen.

Sein Vater sagt, oft bleibe Allen dadurch länger konzentriert in der Geschichte, manchmal lenke es aber auch ab. Das ist laut Hirnforschern einer der größten Nachteile von Tablets: Sie sind zu vielfältig. Beim Lesen in einem Buch kann ein Kind eine emotionale Bindung zu einer Geschichte aufbauen. Das blaue Buch steht für „Die 13 1/2 Leben des Käpt’n Blaubär“, eine einzige Geschichte. Wenn Eltern es vorlesen, gibt es in dem Moment nur das. Allens iPad steht für Dutzende Bücher, die darauf gespeichert sind, für „Angry Birds“, „Hay day“ und die Fotos vom letzten Familienausflug.

Abends vor dem Schlafengehen liest Allens Vater den Kindern deshalb lieber Bücher vor, auf dem iPad wollen sie immer rumdrücken und hören nicht zu. Und für Abby, Allens kleinste Schwester, sind die meisten Apps ohnehin noch zu kompliziert. Kinder unter zwei haben größere Probleme als Ältere, Informationen zu speichern, die ihnen über Bildschirme vermittelt werden. Steht ein echter Mensch vor ihnen, fällt es ihnen leichter. US-Forscher nennen diese Schwäche video deficit.

Georgene Troseth, Entwicklungspsychologin an der Vanderbilt Universität in Nashville, Tennessee, hat hierzu ein Experiment gemacht. Sie stellte zwei Gruppen von Kindern die Aufgabe, ein Kuscheltier im Nachbarraum zu finden. Die eine Gruppe hatte einen Bildschirm vor sich, auf der eine Frau erklärte, wo das Tier versteckt war. Bei der anderen Gruppe stand eine Frau im Nachbarraum und erklärte das Versteck durch eine Scheibe. Fast alle Kinder der zweiten Gruppe fanden das Kuscheltier, die anderen taten sich deutlich schwerer.

Der Fernseher berieselt. Ein Tablet wird bedient

Einige Jahre später wiederholte Troseth ihr Experiment, dieses Mal interaktiv, mithilfe eines Video-Chats. Die Frau auf dem Bildschirm ging auf die Kinder ein, fragte nach Geschwistern oder dem Lieblingsessen – und das video deficit verschwand fast komplett. Die meisten Kinder fanden das Stofftier.

Kleinkinder, erklärt Troseth, brauchen einen „beidseitigen Informationsaustausch“, also jemanden, der auf sie reagiert. Ein Fernseher spult stumpf sein Programm ab. Ein Tablet muss fast immer bedient werden und spielt etwas zurück. „Das macht die Informationen, die vermittelt werden, für Kinder relevant“, sagt die Psychologin.

Ohne von solchen Experimenten zu wissen, war das die Intuition der Eltern Daniel und Diorellys. Sie wollten ihre Kinder nicht von einem eintönigen TV-Programm berieseln lassen. Dass ihr Plan, so viel Bildung wie möglich per iPad zu vermitteln, schließlich doch ins Wanken geriet, lag an einer Routineuntersuchung in Allens Kita.

Walkman Das Gerät: erschien erstmals am 1. Juli 1979 auf dem Markt. Die Angst: Das Kind erleidet Hörschäden

C 64 Das Gerät: 8-Bit-Computer, 2 Millionen Mal im Jahr verkauft. Die Angst: Das Kind spielt am PC statt draußen

Game Boy Das Gerät: lange bestverkaufte tragbare Konsole. Die Angst: Das Kind wird süchtig

PlayStation Das Gerät: Spielkonsole. Die Angst: Das Kind mag Lara Croft und Gewalt

Tamagotchi Das Gerät: Haustier-Simulation zum Umhängen. Die Angst: Das Kind verliert den Bezug zur Realität

iPod Das Gerät: der erste unter vielen MP3-Playern, die Apple berühmt machten. Die Angst: siehe Walkman

Ein Arzt sollte den Entwicklungsstand der Kinder feststellen, aber Allen verweigerte sich. Er machte einfach nicht mit, antwortete nicht auf Fragen und stellte sich taub. Natürlich wussten die Eltern, dass ihr Sohn schüchtern ist. Aber eine solche Blockade irritierte sie. Daniel ging zu einer Psychologin, um über Allen zu sprechen. Als die Frau ihn fragte, wie Allen mit seiner Schwester spielt, stutzte er. Ihm fiel nichts ein. „Meistens“, sagte Daniel, „sitzen sie nebeneinander und spielen iPad“.

Allen, sagte die Psychologin, scheine extrem introvertiert zu sein. Das Tablet könne diese Eigenschaft verstärkt haben. So sehr, dass es zum Problem wurde. „Ich musste mir eingestehen, dass sich Allen oft mit dem iPad zurückgezogen hat“, sagt Daniel. „Der Junge hatte eine Überdosis.“

Der Fünfjährige hatte sich in die virtuelle Welt seines Tablets vertieft und die echte Welt etwas vergessen, seinen Eltern war es ähnlich ergangen. „Man muss es so sagen“, sagt Daniel, „der Termin bei der Psychologin hat uns die Augen geöffnet.“ Die Zeit, auf dem Spielplatz zu spielen, war enger begrenzt als die, auf dem iPad herumzuwischen. Von nun an, beschlossen die Eltern, sollten die Kinder nicht mehr ständig Zugang zu ihm haben. Diese Entwicklung ist auch der Grund, warum Daniel und Diorellys in diesem Text keine Nachnamen haben. Sie wollen nicht, dass die Geschichte ihres Jungen sein Leben lang nachzugooglen ist.

Wenn Eltern die Wirkung von Tablets falsch einschätzen, dann sei es nicht nur ihre Schuld, findet der Haptikforscher Grunwald. Mit Tablets, sagt er, sei es wie damals mit der Atomtechnik. „Eine neue Technologie kommt auf den Markt, und alle jubeln über die tollen Möglichkeiten. Gedanken darüber, was wir mit dem anfallenden Schrott anstellen, macht sich kaum einer.“ Mit Schrott meint Grunwald die langfristigen Folgen für Kinder, die zu früh auf Touchpads herumwischen.

Grunwald zündet sich endlich seine Pfeife an. Die Diskussion über Tablets in der Erziehung, sagt er, spiele sich zu großen Teilen auf der Meinungsebene ab. Überprüfbare Forschungsergebnisse gebe es nicht. Massenhaft verkauft würden die Geräte erst seit drei Jahren, als Steve Jobs in Kalifornien das iPad vorstellte. Für eine aussagekräftige Studie über das Aufwachsen mit einem Tablet brauchte man aber mindestens zehn Jahre. Außerdem, sagt Grunwald, fehle es am Willen. „Wissen Sie, wir versenken Hunderte Millionen für ein unsinniges Drohnenprojekt – aber für solch wichtige Studien ist kaum Geld da.“

Wo Forschungsergebnisse fehlen, ist einer der häufigsten Sätze, wenn man sich bei Eltern, Wissenschaftlern und Erziehungsberatern umhört: „Die Dosis macht das Gift.“ Es ist der kleinste gemeinsame Nenner in einer Diskussion, in der kaum jemand die dogmatische Nur-Holzbauklötze-für-meine-Kinder-Position vertreten will. Klar, eine halbe Stunde pro Tag sei schon okay, sagen manche Experten dann. Aber bitte nicht bei Kindern unter zwei.

Zweijährige an Tablets? Na halleluja, das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst, kreischen andere da ins Telefon, die auch von sich behaupten würden, gut Bescheid zu wissen. Stefan Aufenanger kennt die Diskussionen über Tablets, darüber, dass ohne Studien eigentlich kein Gerät an Kinder gelassen werden dürfte. Der Medienpädagoge an der Uni Mainz seufzt. „Jaja“, sagt er, „der deutsche Kulturpessimismus, alles muss immer evaluiert werden.“

Aufenanger ist gerade von einer Bildungsreise mit Studierenden aus den USA zurückgekommen. Das Tablet, sagt er, habe die Mediennutzung auf ein völlig neues Level gehoben. „Die Einführung war fast revolutionär.“ In Deutschland wurden die Geräte zwar gekauft, aber ein Rest Skepsis blieb. Dabei bedeuteten Tablets, so sieht Aufenanger das, gerade für Schulen riesige Chancen. Schulbücher könnten digitalisiert werden, das spare Geld. Außerdem könnten Inhalte ansprechender aufbereitet werden, mit interaktiven Grafiken und Schaubildern. „Ich wundere mich, warum es hierzulande so viele Zweifler gibt“, sagt er. Andere Länder seien schon viel weiter.

In den Niederlanden gibt es erste iPad-Schulen

In der Türkei wolle die Regierung bis 2015 für die Schulen 15 Millionen Tablets kaufen, in Südkorea gebe es bald alle Schulbücher auch als E-Book, in den Niederlanden eröffnen im August erste iPad-Schulen. Und hier?

Bis auf wenige Ausnahmen: Fehlanzeige. Als Hauptgrund nennt Aufenanger die „deutsche Gründlichkeit“. Was das bedeutet? Der 63-Jährige gibt ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz. Da habe es Überlegungen gegeben, Tablets an Schulen einzusetzen. Aber statt es einfach zu tun, wurde erst mal nur eine Pilotklasse mit dreißig iPads ausgestattet – um dann zwei Jahre zu evaluieren, zu diskutieren, hin und her. An den Schulen, die Aufenanger in den USA besucht hat, lief das anders. Da kauft die Regierung Tausende Laptops und Tablets, ganz ohne Studien. „Die Amerikaner sind pragmatisch. Die sagen: Wir leben in einer medialen Welt, da gehören die neuen Medien auch an die Schule.“

Daniel flog 2010 nach Kalifornien und kaufte seinem Sohn sein erstes iPad. Plötzlich umzustellen auf Entzug sei den Kindern leichtergefallen als gedacht. Die iPads liegen auf der Anrichte im Wohnzimmer, sodass die Kinder nicht rankommen. Alle paar Tage dürfen sie ein bisschen spielen.

Auf dem Balkon liegt nun ein Haufen Stöcke, die Céline gesammelt hat, und Allen baut wieder mehr Höhlen, mit echten Kissen. Die Gruppentherapie, die er nach der Untersuchung in seiner Kita angefangen hatte, ist fast vorbei. Anfangs sei es schwer gewesen, sagt Daniel, Allen wollte den Raum nur in Begleitung betreten. Inzwischen geht er oft allein durch die Tür.

Sebastian Kempkens, 25, ist freier Journalist in München. Er hat als Kind in Büchern geblättert