Kein Grund zur Entwarnung

Die Ideologie des Islamismus trägt totalitäre Züge – dafür gibt es viele Hinweise. Wir sollten diese Herausforderung annehmen. Eine Antwort auf Robert Misik

Im Islamismus, der die USA und Israel als Todfeind sieht, trifft in Europa auf sein ideologisches ErbeWenn die Förderung von Aufklärung und Bildung ein Kampf der Kulturen ist, dann sollten wir ihn führen

Man kann dem Manifest der zwölf Intellektuellen gegen den islamischen Totalitarismus manches vorwerfen: Die Sprache wirkt verbraucht, das Pathos läuft leer, der Adressat bleibt unbestimmt. Bernard-Henri Lévy hat wieder einmal unterzeichnet (der ebenso unvermeidliche André Glucksmann fehlt allerdings). Andere Unterzeichner wie Ayaan Hirsi Ali, Taslima Nasrin oder Salman Rushdie sind als Islamkritiker notorisch. Der Umstand, dass der in der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo erschienene Aufruf hierzulande ausgerechnet von Springers Welt adoptiert worden ist, raubt ihm zusätzlich Kredit. Eines aber leistet das Manifest der zwölf sicher: Es provoziert die Frage nach der Plausibilität der These von der totalitären Gefahr, die vom Islamismus ausgeht.

Robert Misik hat vor einer Woche (4./5. März) an dieser Stelle die Rede vom Islamismus als „neuer Totalitarismus“ unter Parteienverdacht gestellt. Damit werde bloß ein Kulturkampf angeheizt, der durch mangelnden Respekt auf beiden Seiten gekennzeichnet sei. Jede Seite – der Westen ebenso wie die arabisch-islamische Welt – solle sich stattdessen mit den eigenen Schandtaten befassen und versuchen, Verständnis und Anerkennung für die je andere Seite aufzubringen. Mit der gleichen Eloquenz hatte Misik bereits in der Frankfurter Rundschau (einen Tag zuvor) unter der Überschrift „Wir gegen sie“ das Denken in Identitäten gegeißelt, eine Kriegspsychose gewittert und Mäßigung empfohlen. Misiks frontenübergreifender Moderationsversuch stützt sich im Wesentlichen auf vier Argumente, die sich wechselseitig stabilisieren und eine kritische Prüfung verdienen.

Das terminologische Argument: Der Begriff des Totalitarismus sei, Hannah Arendt zufolge, für wirklich totalitäre Herrschaftsformen beziehungsweise Bewegungen reserviert; man dürfe ihn auf den Islamismus nicht anwenden. Nun gehört schon ein gehöriges Maß an Chuzpe dazu, ausgerechnet diese Autorin zur Kronzeugin der eigenen Argumentation zu machen.

Denn immerhin war es gerade die westeuropäische Linke, die bis weit in die 1980er-Jahre hinein Arendts Diagnose von Faschismus und Kommunismus als den beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vehement abgewehrt hat – eine These, die bei den Intellektuellen Mittel- und Osteuropas aus nahe liegenden Gründen sofort Zustimmung gefunden hatte. Ursache für diese im historischen Rückblick evidente Blindheit war nicht zuletzt eine politische Wahrnehmungsstörung, die dafür sorgte, dass wir den Gulag, weil er nicht ins linke Weltbild passte, nicht erkannten und diejenigen, die ihn schilderten, für Renegaten hielten. Auf Hannah Arendt sollte sich also lieber nicht berufen, wer die ideologisch bedingte Sehschwäche ins 21. Jahrhundert retten möchte und verkennt, dass Europa im islamischen Totalitarismus, der die USA und Israel zum Todfeind erklärt hat, in der Tat mit dem Erbe seiner eigenen totalitären Vergangenheit konfrontiert ist.

Das Differenzargument: Zwar gebe es bei den islamistischen Gruppen gewisse mentale Übereinstimmungen mit den faschistischen und kommunistischen Bewegungen. Doch bei der „ganz kleinen Minderheit der Dschihadisten“ handele es sich bloß um eine „Terrorsekte“, die mit den totalitären Massenbewegungen des letzten Jahrhunderts keineswegs zu vergleichen sei. Weshalb eigentlich diese Unvergleichbarkeit, wo Misik doch dem amerikanischen Kulturwissenschaftler Paul Berman in seiner Analyse zuzustimmen scheint, dass der Islamismus alle Ingredienzen einer totalitären Ideologie enthält: eine kohärente Verschwörungstheorie, einen Homogenitäts- und Reinheitswahn, eine apokalyptische Endzeitvision, einen atavistischer Märtyrer- und Todeskult. Auch das Kleinreden durch den Verweis auf die relativ geringe Zahl der militanten Gotteskrieger („vielleicht ein paar zehntausend, möglicherweise hunderttausend“) überzeugt als Gegenargument nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass die Varianten des europäischen Totalitarismus ebenfalls aus Minderheitspositionen heraus erstarkt sind. Entscheidend ist, ob die islamistische Propaganda in der Lage ist, der totalitären Idee eine Massenbasis zu verschaffen – und das tut sie offenbar, wenn man die rasante Entwicklung des religiösen Fanatismus, die Verfestigung der messianischen Heilserwartungen, den Anstieg des Hasses auf die Ungläubigen und das Maß an hingebungsvoller Opferbereitschaft in der islamisch-arabischen Welt in Betracht zieht.

Das Zurechnungsargument: Wir selbst, so Misik, konstruierten die Gefahr des totalitären Islamismus, indem wir diesen „mit der Axt“ so zuschnitten, dass alle möglichen Gruppen hineinpassten, auch jene, die sich nur partiell mit seinen Zielen identifizierten: die religiösen Fundamentalisten und Frömmler; diejenigen, die sich in ihrer Lebensweise von der Säkularisierung bedroht und in ihrer kulturellen Besonderheit von der vorherrschenden westlichen Kultur gedemütigt fühlten; diejenigen, die in ihrer Misere zu antisemitischen, antiwestlichen, antikapitalistischen Schuldzuschreibungen griffen; selbst die säkularen muslimischen Intellektuellen, die sich der Reislamisierung nicht widersetzten. Weshalb aber um Himmels willen soll man diese Gruppen, auf deren aktive oder passive Unterstützung das islamistische Projekt letzten Endes angewiesen ist, nicht hinzurechnen dürfen?

Das Empathieargument: Der militante Liberalismus westlicher Prägung mit seinem Werteuniversalismus verstehe gar nicht, weshalb die andere Seite ihre eigenen Werte verteidige und sich von der westlichen Überlegenheitspose gedemütigt und beleidigt fühle. Wäre es denn einfühlsamer, den Finger auf die äußere Realität dieser narzisstischen Wunde zu legen? In der arabisch-islamischen Welt, meint etwa der Historiker Dan Diner, werde die kränkende Rückständigkeit gegenüber einem prosperierenden Westen sehr wohl gesehen. Statt aber die Ursachen für das Modernisierungsdefizit in eigener Kultur- und Sozialgeschichte zu suchen – etwa fehlende ökonomischen und politischen Freiheiten in Gesellschaften, die die Trennung von Staat und Religion nicht akzeptieren –, werde der historische Niedergang des Islams paranoid bewältigt und dem kolonialen Westen angelastet.

Die Generaldebatte, die nun über wechselnde Anlässe hinaus auch in Europa in Gang kommt, wird unter US-amerikanischen Intellektuellen spätestens seit dem 11. September 2001 geführt. Als die Blutspur des Islamismus, die sich seit einem Vierteljahrhundert durch die Länder des Südens zieht, das Terrain der USA erreicht hatte, stand auch hier im Mittelpunkt die Frage, ob diese neue Form totalitärer Bedrohung Interventionen von außen verlange. Und zwar nicht nur militärische, sondern vor allem „ideologische“ im Sinne von Bildung, Erziehung, Aufklärung – nur so könne der Westen seiner Verantwortung für den Zustand der Welt gerecht werden. Wenn das ein Kampf der Kulturen ist, dann sollten wir ihn führen.

MARTIN ALTMEYER