Wohin der Wind der Geschichte uns weht

Schriften zu Zeitschriften: Die „Vorgänge“ fragen nach der Zukunft der Linken – und entdecken nur noch Prolls, teils mit, teils ohne Geld

Dass es jemals ein dauerhaftes Vergnügen war, sich politisch links zu fühlen, wird kaum jemand ernsthaft behaupten wollen. Als hätte nicht schon die schauerliche Erinnerung an sieben Jahre Rot-Grün ausgereicht, um das Maß voll zu machen. Nun hat der Sturm, der immerzu vom Paradiese her weht, das Land auch noch in die mütterlichen Arme der großen Koalition geblasen. Für einen echten Linken wieder einmal Anlass genug, eine veritable Identitätskrise auszubrüten.

„Was ist heute links?“, fragt Alexander Camman, Redakteur der Zeitschrift Vorgänge, im Editorial des neuen Doppelhefts 171/172, das sich thematisch der „Zukunft der Linken“ widmet und nach fünf Jahren die letzte von Cammann betreute Ausgabe ist; sein Nachfolger wird Dieter Rulff. Eine gute Frage. Man könnte sie auch distanzierter formulieren: „Was sind denn heute bloß unsere drängenden politischen Probleme?“ Und wieso muss man überhaupt noch links sein, um sich einfach mal ganz pragmatisch und wirklichkeitsnah an ihre Lösung zu machen?

Als ein glänzendes Beispiel dafür, wie man das linke Ringen um einen metaphysischen Fortschrittsbegriff verabschiedet und durch eine Theorie des politischen Handelns ersetzen kann, rühmt der Hamburger Politologe Michael Th. Greven den Philosophen Jürgen Habermas. Denn, so mahnt Habermas in seinem Werk „In der Melancholie der Erinnerung an das Versagte und in der Beschwörung der verlöschenden Momente des Glücks droht der historische Sinn für die profanen Fortschritte zu verkümmern.“

Das scheint inzwischen allemal ratsamer, als sich weiter an den alten Satz von Walter Benjamin zu klammern: „Dialektiker sein heißt den Wind der Geschichte in den Segeln haben.“ Zu leicht könnte man damit hysterisch werden, wenn der Wind sich dreht und einen an unerwartete Ufer verschlägt – etwa an solche, wie sie der Journalist Klaus Harpprecht in seinem Beitrag stakkatomäßig zu kennen und lieben lernt: „Links sein heißt: Freiheit der Dienstleistung, auch in Berufen, die wir zu lange hochmütig gemieden haben.“ Tahiti ist doch auch ganz schön, nicht wahr? Kassiererin ist doch auch ein ehrenwerter Beruf. Weiter Harpprecht: „Das ist links. Progressiv. Liberal im amerikanischen und altbürgerlichen Verständnis des Wortes. Wenn es denn sein muss: auch wertkonservativ.“ Kurz: Links ist, was sich wie rechts anfühlt.

Damit kann man natürlich nicht glücklich werden. Doch glaubt man dem Historiker Heinz Dieter Kittsteiner aus Frankfurt (Oder), liegt das daran, dass man mit seinem linken Bewusstsein ohnehin bloß einer selbst entzweienden Chimäre nachjagt. Denn im Grunde hätten hierzulande schon immer alle Interessensgruppen unter einer Decke gesteckt: „In Deutschland sind sogar die Mittelständler antikapitalistisch.“ Daher möchte Kittsteiner den ganzen politischen Zank, der mit dem Parteienpluralismus einhergeht, am liebsten abgeschafft wissen. Reine Desinformation sei der letzte Bundestagswahlkampf gewesen: „Niemand hat den Wählern die wirkliche Lage erklärt.“ Doch diese „wirkliche Lage“, die politische Einheitslage, kann es natürlich nur dann geben, wenn auch alle Menschen gegenüber dem Staat nur noch ganz gleichartige Interessen und Bedürfnisse geltend machen wollten. Am besten womöglich gar keine mehr. Denn, so Kittelsteiner: „Es gibt nur noch Prolls – entweder mit oder ohne Geld.“ Das alles aber lässt für ihn nur eine verblüffend sozialistische Konsequenz zu: die Einheitspartei aus SPD und CDU.

Hinter solchem Realitätssinn vermutet der Berliner Publizist Albrecht von Lucke nur „bräsige Selbstgefälligkeit, ohne jede Streitlust“. Doch auch für Lucke ist die Linke immer „ein zutiefst bürgerliches Phänomen“ gewesen. Ganz klar, denn: „Bekanntlich kommt die Moral, wenn sie denn überhaupt entsteht, erst ab einem gewissen Sättigungsgrad, der den Kopf frei macht für anderes als die Primärbedürfnisse.“ Verfolgt man diesen Gedanken zu Ende, müsste die Linke der Zukunft aus den Reihen der Wohlstandsgewinner von heute auferstehen. Und ihr anderen: Müht euch nicht! Wer nicht zum Club dazugehört, kann seinen linken Weltschmerz auch getrost an den Nagel hängen. Man muss ihn sich schlicht und einfach leisten können. Oh, mein Gott – noch herrscht also Zynismus bei den intellektuellen Linken. JAN-HENDRIK WULF

Vorgänge 171/172, 24 €