Wann wird Genuss zum Kontrollverlust

JUNGE PERFORMER Den Spannungsbogen straff halten: Um die Freiheit und ihre Grenzen geht es in „Keinen Schritt weiter“, der ersten gemeinsamen Produktion vom Grips Theater und der Bühnenkunstschule Academy

Die Berliner Jugendlichen konnten sich entfalten, man spürt, es ist ihr Material

VON ANNETT JAENSCH

Eine Party mit jungen Leuten Anfang 20, da wird gern gefeiert, bis der Arzt kommt. In der Inszenierung „Keinen Schritt weiter“ kapert so eine ausgelassene Meute die Bühne. Bestechend einfach das Bühnenbild: Zwei Boxen, nur von Jalousien begrenzt, markieren die Spielflächen. In der größeren von beiden wogt die Gruppe hin und her. Immer wieder lassen die elf Akteure Partymomente einfrieren. Lachfetzen und Flirtposen gerinnen zu Stills, die den Zauber des Augenblicks feiern. Doch schnell wird klar: Hier ist etwas geschehen.

In der kleinen Box, dem Ort für intime Soli, wird das Ernste gegengeblendet. „Was haben Sie gesehen? Wer war noch dabei?“, fragt eine Stimme aus dem Off wie beim Polizeiverhör. Einzelne geben Auskunft über die Geschehnisse in der Partynacht, stockend, aufgelöst. Zwischen den Schilderungen schleudern sie aber auch ganz persönliche Ansichten heraus. „Ich versteh’s nicht! Warum ist die Welt so, wie sie ist?“ Hochtrabend Nietzsche zitieren und im nächsten Moment fragen, warum es eigentlich Frauenfußball gibt. Es ist dieses adoleszente Philosophieren, das in einem Atemzug die Welt umarmt und verwirft.

Der belgische Regisseur Gregory Caers hat simple, aber wirkungsvolle Theaterkniffe gewählt, um das schauspielerische Talent freizulegen und den Spannungsbogen straff zu halten. Nach und nach werden alle Jalousien hochgezogen, die Begrenzung, die wie ein Schutzraum wirkt, schwindet. Man ahnt, so exponiert wird das Treiben ein jähes Ende finden. Denn schon längst sind die harmlosen Partyspielchen, befeuert von Alkohol, immer enthemmter geworden. Das zärtliche Geplänkel eines Paares – gespielt von Solánge Adjakoh und Theo Frielinghaus – schlägt um, er will mehr als sie, sie wehrt sich, schreit und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. In einem Maße, wie es als Meldung am nächsten Tag in der Zeitung stehen könnte.

„Freiheit und Grenzen“, das ist das Thema der ersten Masterclass-Produktion des Grips Theaters mit der Academy Bühnenkunstschule für Jugendliche. Die Talentschmiede in der Alten Feuerwache Kreuzberg gibt Jugendlichen im Alter von 13 bis 19 die Möglichkeit, sich in den Sparten Tanz, Theater und Gesang zu erproben. Rund 50 Teilnehmer aus den Jahrgängen der letzten zehn Jahre hatten beim Masterclass-Casting mitgemacht. Elf – acht Mädchen und drei Jungen – hat Gregory Caers schließlich mit auf die Reise zu „Keinen Schritt weiter“ genommen.

Dem Belgier, Jahrgang 1975, liegt die Theaterarbeit mit Jugendlichen am Herzen. So arbeitete er mehrere Jahre für Kopergietery, einem Kinder- und Jugendtheater im flämischen Gent, und gründete danach Nevski Prospekt, ein Theaterkollektiv, das Performances und Projekte mit Jugendlichen weltweit anschiebt. „Ich glaube, dass Kinder und Jugendliche, denen man die Möglichkeit gibt und sie ermutigt, sich mit unterschiedlichen Kunstformen auszuprobieren, zu stärkeren Persönlichkeiten werden“, sagt Caers.

Auch die Berliner Jugendlichen konnten sich entfalten, man spürt, es ist ihr Material. Authentizität steht im Mittelpunkt des Ansatzes, den Caers selbst „Physical Theatre“ nennt. „Wir hatten die Freiheit, jede noch so absurde Idee umzusetzen. Es war sehr faszinierend zu sehen, wie er all unsere Bewegungen, Texte und Ideen zusammengefügt hat“, schwärmt Bernadette Schnabel über die Zusammenarbeit mit dem Mentor. Herausgekommen ist in vier Wochen Probenzeit ein dynamisches Stück, das von einer Gratwanderung erzählt: vom lustvollen Genießen der Jugend, vom Auskosten der Freiheit, aber auch von der Erkenntnis, dass einem beim Überschreiten von Grenzen die Kontrolle fatal entgleiten kann.

Grips-Intendant Stefan Fischer-Fels, der seit 2011 die Geschicke des Hauses lenkt, sieht in partizipativen Formaten einen wichtigen Trend. Traditionell eröffnete stets der Klassiker „Linie 1“ die Spielzeit; als Novum lädt Fischer-Fels nun regelmäßig richtungsweisende neue Produktionen ein. „Keinen Schritt weiter“ wird in diesem Jahr der Grips-Auftakt sein. Bei der Voraufführung im Podewil war kurz vor Beginn der Strom ausgefallen. Keine leichte Situation für junge Darsteller, deren Nerven beim ersten Auftritt schon genug flattern. Als es anderthalb Stunden später endlich losgeht, ist dem Ensemble nichts anzumerken. Sie spielen mit Verve und Frische. „Keinen Schritt weiter“ heißt es in ihrem Stück, als junge Persönlichkeiten hingegen haben sie sicher einen großen Sprung nach vorn gemacht.

Die Uraufführung heute Abend ist ausverkauft. Karten sind noch erhältlich für Samstag, 10. August, 19.30 Uhr und für weitere Termine im September