„Rassismus“ als erlaubte Zuspitzung

URTEIL Karlsruhe stärkt Meinungsfreiheit bei Kritik an Behörden

FREIBURG taz | Das Grundgesetz schützt auch übertriebene und ausfällige Kritik. Das entschied jetzt das Bundesverfassungsgericht und beanstandete ein Urteil über den Flüchtlingsrat Brandenburg. Das Recht, staatliche Maßnahmen „ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können“, gehöre zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, so Karlsruhe.

Anlass war der Fall eines gehörlosen Mannes aus Sierra Leone, dessen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis von der Ausländerbehörde in Brandenburg/Havel abgelehnt wurde. Im folgenden Gerichtsverfahren behauptete die Behörde, der Mann spiele seine Taubheit nur vor.

Daraufhin verlieh der Flüchtlingsrat 2010 der Stadt Brandenburg und der zuständigen Sachbearbeiterin einen Negativpreis, den „Denkzettel für strukturellen und systeminternen Rassismus“. Die Taubheit des Mannes sei durch Gutachten belegt.

Das Amtsgericht Potsdam verurteilte zwei Mitarbeiter des Flüchtlingsrats wegen „übler Nachrede“ zu einer Geldstrafe. Die Akte des Flüchtlings habe der Sachbearbeiterin nicht vollständig vorgelegen. Es sei daher eine Ehrverletzung, wenn der Frau unterstellt werde, sie habe absichtlich falsche Argumente vorgebracht. Das Landgericht bestätigte die Verurteilung. Karlsruhe hob sie nun auf und forderte eine Neuverhandlung. Die Preisverleihung sei zu Unrecht als Tatsachenbehauptung eingestuft worden, aber ein Werturteil gewesen. Im Kern sei es um eine Auseinandersetzung in der Sache gegangen und nicht um die Diffamierung der Person. Die Meinungsfreiheit beschränke sich nicht auf „das zur Kritik Erforderliche“, so Karlsruhe, sondern umfasse auch „ein Recht auf polemische Zuspitzung“. CHRISTIAN RATH