Die Erinnerung ist unsterblich

„Last & Lost“ und „Sarmatische Landschaften“: Autoren und Autorinnen wie Juri Andruchowytsch, Andrzej Stasiuk, Lídia Jorge oder Kathrin Schmidt erkunden in zwei Sammelbänden vergessene Orte und die versunkene Mitte Europas

Ein Städtchen in der Slowakei, Rudňany, ein tristes Bergbaustädtchen in einer verwüsteten postindustriellen Landschaft. Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk hat es besucht, und was er dort sah, verleitet ihn zu der pessimistischen Annahme: „Rudňany war Gestalt gewordener Untergang, Vergangenheit und Verlust […] Rudňany ist die Erzählung von einer Welt, für die immer größere geographische, historische und menschliche Räume überflüssig werden.“ Dass mag man kaum glauben im Zeitalter der Globalisierung und einer immer enger zusammenwachsenden Welt.

Doch liest man „Last & Lost“, den von Katharina Raabe und Monika Sznajderman herausgegebenen „Atlas des verschwindenden Europas“, bekommt man wirklich den Eindruck, dass es sie überall in Europa verstärkt gibt, die aufgegebenen Orte und Räume, das wasteland: Ruinen der modernen Zivilisation, ob Industriebrachen oder stillgelegte Bahnhöfe, ob seit jeher vergessene Gegenden an den Rändern Westeuropas oder durch Krieg und Vertreibung verwüstete einstige Großzentren in Mittel- und Osteuropa.

Raabe, Lektorin für osteuropäische Literatur beim Suhrkamp Verlag, und Sznajderman, Ehefrau von Stasiuk und mit diesem zusammen Leiterin des südpolnischen Czarne-Verlags, haben fünfzehn Autoren und Autorinnen überall aus Europa nach ihren verlorenen Orten gefragt und sie gebeten, diese subjektiv zu beschreiben, in Form von Essays, literarischen Reportagen oder Geschichten. Der litauische Schriftsteller Marius Ivăskevičius schreibt über den legendären Bahnhof Wershbolowo, an dem Russland endete und Deutschland/der Westen begann, Juri Andruchowytsch besucht eine transkarpatische Holzfällerstadt, Lídia Jorge ist in Portugal unterwegs oder Karl-Markus Gauß in Österreich, wo er das Waldviertel besucht hat, eine von den Nazis zugunsten ihrer militärischen Truppenausbildung entvölkerte Region, die nun auch das österreichische Militär als TÜPL benutzt, als Truppenübungsplatz (der im Lauf der Zeit zu einer Naturschutzzone mit einer einzigartigen Artenvielfalt wurde).

Wo es Raabe und Snaijderman auch um den Zauber der besuchten Orte geht, da will der Journalist und Schriftsteller Martin Pollack mit „Sarmatische Landschaften“ „den Blick für diese Regionen […] schärfen, die nach wie vor im blinden Winkel unserer Wahrnehmung liegen“: Litauen, Belarus, die Ukraine, Teile von Polen. Pollack hat 25 Autoren und Autorinnen gebeten, diesen Raum zu beschreiben (darunter u. a. wieder Stasiuk, Andruchowytsch, Ivăskevičius) und die versunkene Mitte Europas wieder so lebendig werden zu lassen, wie sie einst war, mit all den Problemen, die die historischen Verwerfungen und aktuellen Konflikte – etwa die EU-Erweiterung – mit sich bringen. Ein interessantes, lehrreiches Unterfangen; das möglicherweise zum Scheitern verurteilt ist, wie wiederum „Last & Lost“ beweist. Der Trost besteht darin, dass allein die Tatsache, dass man sich dieser Regionen in Buchform erinnert, sie vor dem völligen Verschwinden bewahrt. Denn wie sagt es Andrzej Stasiuk: „Die Erinnerung ist die einzige Unsterblichkeit, die wir uns leisten können.“ GBA

Katharina Raabe/Monika Sznajderman (Hrsg): „Last & Lost“. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2006, 338 Seiten, zahlreiche Fotos, 29,80 € Martin Pollack (Hrsg): „Sarmatische Landschaften“. S. Fischer, Frankfurt/Main 2006, 362 Seiten, 28 €