Der Schleier über dem Lärm

Gerlind Reinshagen erzählt in ihrem neuen Roman „Vom Feuer“ in einem geräuschlosen Ton von Krieg und Frieden und einer Generation, die nie unbesorgt und unbesonnen sein konnte

Während die Geschichtsschreibung die Sprache in den Dienst der Sache stellt, sie den Fakten und Zahlen unterordnet und schnörkellos berichtet, geht es in der Literatur zentral um die Art und Weise der Darstellung. Auch wenn es sich um Historisches handelt. Auch wenn von Krieg und Frieden die Rede ist, so wie in Gerlind Reinshagens neuem Roman „Vom Feuer“.

„Ach, Freund, ich bin nicht die, die hier exakte Daten liefern kann. Geschweige denn will. Ich bin die Lebensbeschreiberin, Chronistin lediglich für das, was sich der Berechnung entzieht.“ Dieses Unberechenbare festzuhalten, stückweise, in Briefen, das war ein Versprechen, gegeben dem Soldaten, bevor er in den Krieg zog. Es war die Triebfeder der Chronistin. Und es ist der Kernpunkt von Reinshagens Roman.

Doch dann schrieb die „Lebensbeschreiberin“ nicht. Nicht, als sie wartete und ihn vermisste, nicht, als Glück und Angst, Lachen und Weinen sich zutrugen. Erst später, „das muss nun bald fünfzehn Jahre her sein“. Erst jetzt, da sie, wie sie klagt, Einzelheiten vergessen hat, beginnt sie mit den Aufzeichnungen und sucht erst mal nach allen Anfängen, nach der Antwort auf die Frage „Wann überhaupt fängt Leben an?“. Das Erinnern fällt schwer. Manchmal kehren Bilder wieder, doch nur für Momente. Es sind stille Bilder – Bilder der „Kriegsstille“, durchtaumelt, schlafwandlerisch, die Ohren taub. Der Lärm der Bomben, Sirenen, Panzer, das Helden-Hassgebrüll glitt vom Körper ab wie von Seide. Es war ein Zustand der Geräuschlosigkeit, mitten im Kriegs- und danach im Friedensgetöse.

Dem Frieden waren die junge Chronistin und ihre Freundinnen – und die Soldaten, die nach Hause kamen – ebenso wenig gewachsen wie dem Krieg. Lange Zeit so nahe dem Tod, wie alte Menschen es sind, hatten sie nicht jung sein können, nicht unbesonnen, unbesorgt. Für viele kam das Endlich-anfangen-Können mit ihrem Leben zu spät. Zwar versammeln sie sich alle wieder in der Ruine des alten Turmhauses, eines früheren Fluchtortes. Aber das Haus dort, irgendwo in einer deutschen Kleinstadt, wird durch seine an- und abwesenden Insassen, durch ihren Dämmerzustand, zum Geisterhaus.

Gerlind Reinshagens Sprache verdoppelt die Distanz. Von Entsetzlichem, von Grauen, von Zerstörung und Tod ist nicht die Rede – nicht vordergründig. Ihre Sätze schweben ästhetisch überhöht über den Dingen. Ihr Sprachton ist ein Märchenton, nicht frei von Pathos. Er wendet sich ab vom Geschehen, lässt es wegrutschen, wie wenn es von Seide wäre, deckt die Abgründe zu. Und hinterlässt einen Trancezustand, der Abwehr hervorruft. Denn es lässt sich mit der geschönten Sprache – oder soll man sagen: der benutzten Sprache? – alles erzählen, alles auf gleicher Höhe. Doch dort befinden sich die exakten Daten, dort wohnt die Geschichtsschreibung. Zumal: Der Ort der Lebensbeschreiberin, die vom Krieg und vom Frieden berichtet, ist er nicht ein anderer?

Reinshagen, die am 4. Mai 80 Jahre alt wird, spricht am Schluss ihres Romans von den Erinnerungen, die verfließen wie das Meer, das sich nach der Flut zurückzieht und schließlich still wird. Sie hat sich für diese Stille entschieden in ihrem neuen Buch. Und einen Schleier gelegt über den Lärm, vielleicht auch über den, der von zu großem Schmerz herrührt. SILVIA HESS

Gerlind Reinshagen: „Vom Feuer“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, 195 S., 19,80 Euro