„Die Religiosität ist heute individuell“

Vor 200 Jahren stand Frankreich vor der ersten Schwelle der Laizisierung. Aus der Zeit Napoleons stammt auch die fragwürdige Vorstellung, man könne eine Art Leitkultur staatlich verfügen, sagt der Soziologe Matthias Koenig

taz: Herr Koenig, wie auf einem Experimentierfeld für die Zukunft wandelt sich das Verhältnis von Gesellschaft und Religion zwischen 1789 und dem Beginn des 20. Jahrhunderts: Säkularisation, Laizismus und die Trennung von Kirche und Staat sind die Stichworte. Welche Bedeutung hatte die napoleonische Zeit hier in Frankreich und Deutschland?

Matthias Koenig: In beiden Ländern markieren sie eine Etappe auf dem Weg der Differenzierung von Religion und Politik. Ausgangspunkt ist die Französische Revolution, wo Protestanten und Juden alle staatsbürgerlichen Rechte erlangen, allerdings auch neue Formen von National- und Zivilreligion entstehen. Stabilisiert wird diese Situation durch Napoleon mit dem Konkordat von 1801 und dem Code Civil von 1804. Man spricht hier von der „ersten Schwelle der Laizisierung“ des französischen Staates, während die „zweite Schwelle“ erst in der Dritten Republik genommen wurde, als das Schulwesen verstaatlicht und Kirche und Staat im Gesetz von 1905 getrennt wurden. Die französische Entwicklung hatte Auswirkungen auch diesseits des Rheins. Die geistlichen Fürstentümer wurden 1803 „säkularisiert“ und kirchlicher Besitz nach französischem Vorbild konfisziert. Das landeskirchliche Regiment blieb allerdings bestehen, und selbst die Trennung von Kirche und Staat in der Weimarer Republik war religionsfreundlicher als in Frankreich.

Welche Bedeutung haben die religionspolitischen Entscheidungen der napoleonischen Zeit für den aktuellen Umgang mit Religion und religiöser Pluralität?

Das Prinzip staatlicher Neutralität, aber auch die damaligen Konfliktlinien wirken bis heute nach: Den Enteignungen haftete etwas Illegitimes an. In Deutschland zahlen die Bundesländer deswegen bis heute als Entschädigung Staatsleistungen an die Kirchen. In Frankreich unterhält der Staat die Kirchengebäude, die vor 1905 gebaut wurden; der Neubau von Kultstätten, etwa Moscheen, wird dagegen staatlich nicht finanziert. Ein ähnlich problematisches Erbe sind die etatistischen Eingriffe in das religiöse Leben. So wie Napoleon einst zentrale Repräsentationsinstanzen für Protestantismus und Judentum schuf, so versucht das französische Innenministerium heute die Muslime in einem Conseil français du culte musulman zu organisieren, allerdings mit begrenztem Erfolg. Auch die fragwürdige Vorstellung, eine „Leitkultur“ lasse sich – womöglich noch mit Bezug auf eine Zivilreligion – politisch anordnen, stammt aus jener Zeit.

Worin unterscheiden sich die heutigen Konflikte, beispielsweise um die Integration des Islam, von denen der napoleonischen Zeit?

In den Konflikten des 18. und 19. Jahrhunderts ging es um die Bildung einer nationalen Gemeinschaft und die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber der Kirche. Heute haben die Religionen längst Prozesse der inneren Säkularisierung und Individualisierung durchlaufen; denken Sie an das II. Vatikanische Konzil, wo die katholische Kirche erstmals die Ideen von Demokratie und Menschenrechten anerkannte. Aber selbst bei fundamentalistischen Bewegungen, im Protestantismus wie im Islam, haben wir es oft mit einer hochgradig individualisierten Religiosität zu tun. Dem Staat steht damit nicht mehr ein Herrschaftsverband mit absolutem Wahrheitsanspruch gegenüber, sondern eine Vielzahl von Gemeinschaften, die auf gleichberechtigte Anerkennung ihrer religiösen Identität im öffentlichen Raum drängen.

Welche Kultur braucht eine Gesellschaft, die heute religiöse Vielfalt, also auch Bilderverbote, Atheismus und Mohammed-Karikaturen miteinander vereinbaren muss?

Grundlegend ist die Akzeptanz einer Rechtsordnung, in der sich alle, unabhängig von den eigenen religiösen Werten, gleiche Freiheitsrechte zugestehen und ihre gemeinsamen Belange demokratisch regeln. Gläubigen aller Religionsgemeinschaften mutet dies zwar einen Verzicht auf die Durchsetzung ihrer Gebote und Verbote zu, hindert sie aber nicht daran, ihre Überzeugungen auch in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Insofern ist die eigentliche Herausforderung aktueller Religionspolitik, Bedingungen zu schaffen, unter denen säkulare und religiöse Argumente gleichmäßig Gehör findet. Dazu gehört übrigens auch, nicht alle sozialen und politischen Konflikte religiösen Differenzen zuzuschreiben.

FRAGEN: FRITZ VON KLINGGRÄFF