Verdammt fehlbar

Nicht gegendarstellungsfähig: Jony Eisenbergs juristische Betrachtungen. Heute: Richtersprüche

Zwei Meldungen in dieser Woche zeugen von der Fehlbarkeit menschlicher Rechtsetzung:

1. Haager Kriegsverbrechertribunal zu Jugoslawien: Milošević wird tot aufgefunden. Er litt seit Jahren an Herz- und Gefäßleiden. Forderungen, ihn zu russischen Spezialärzten reisen zu lassen, wies das Haager Gericht zurück, ebenso hielt es ihn für haft- und verhandlungsfähig und prozedierte jahrelang ziel- wie endlos vor sich hin. Milošević starb darüber allein in seiner Zelle an Herzinfarkt.

Ein Toxikologe (hat den eigentlich jemals einer von der ärztlichen Schweigepflicht befreit?) verbreitet sogleich, dass in M.s Blut nicht verordnete Arzneimittel gefunden worden seien, die die verschriebenen Blutdrucksenker in ihrer Wirkung aufhoben. Sofort posaunt die Anklägerin den Verdacht in die Welt, M. habe – aus Gemeinheit und um sie um ihren Prozess-„Sieg“ zu bringen – diese Mittel heimlich eingenommen. Auch einen Selbstmord könne man nicht ausschließen. Vier Tage nach dem Tod muss der Gerichtspräsident dann kleinlaut eingestehen: Es hat keine Spuren dieser Mittel in M.s Blut gegeben. Anders gesagt: M. ist in einer Weise der Prozess gemacht worden, dass er diesen nicht überlebt hat.

Niemand hat das Recht, um der Gerechtigkeit willen den Tod eines Angeklagten herbeizuführen. Es ist Sache des Gerichts, dafür zu sorgen, dass nur einem Verhandlungsfähigen, also einem Menschen der Prozess gemacht wird, der diesem gesundheitlich auch gewachsen ist. Gegen diese Pflicht hat das Gericht verstoßen. Das verleiht den gezielt gestreuten Gerüchten, M. habe seinen Tod selbst zu verantworten, Odeur.

2. Bundesverfassungsgericht: Ein Mann verdient 1994 ein zu versteuerndes Einkommen von rund 623.000 DM und muss davon 59 Prozent an Steuern abdrücken. Er meint – unter Berufung auf ein maßgeblich von einem „Rechts-Professor aus Heidelberg“ verfasstes Urteil des Gerichts aus dem Jahre 1995 –, nicht mehr als höchstens die Hälfte seines Einkommens als Steuer zu schulden. Das Bundesverfassungsgericht, das heute – anders als 1995 – mit Angehörigen einer Richtergeneration besetzt ist, die staatliche „Armut“ in Form bescheidener Abstriche von ihren üppigen Alimentationen erfahren haben, entscheidet jetzt: Der Mann muss 59 Prozent zahlen. Das Grundgesetz schreibt nach heutiger Auffassung der Richter keineswegs vor, dass einem Bürger mindestens 50 Prozent seines Einkommens bleiben. Sofort frohlocken die Anhänger von Reichensteuern und drehen am Sachverhalt: „Das Urteil zeigt, dass das Bundesverfassungsgericht nicht die Ideologie teilt, dass die Steuern so weit sinken müssen, dass der Staat nicht handlungsfähig ist“, posaunt ein SPD-Abgeordneter. Wir rechnen nach: 623.000 DM durch 100 mal 41 sind 255.430 DM, die dem Manne bleiben. Den Rest sacken der Staat und seine Funktionäre ein: nicht zuletzt, um die Verfassungsrichter zu alimentieren.

Unser Autor arbeitet als Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Berlin