sozialkunde
: Die Perfektion vor dem Buchdruck

Was bewegt eine „nichtwestliche Soziologie der nichtwestlichen Welt“? Und verbindet sie mit dem Kulturenstreit? Einblicke liefert die Zeitschrift „Current Sociology“

Soziologen haben sich bisher meist vornehm zurückgehalten, wenn es darum ging, die Wucht eines Kulturkampfes zu beschreiben und zu verstehen, wie sie zuletzt im Karikaturenstreit wieder zum Ausdruck kam. Im Januarheft der Zeitschrift Current Sociology wird diese Zurückhaltung nicht wirklich aufgegeben, aber mit einer Reihe von Beiträgen von Soziologen der National University of Malaysia und der National University of Singapore kommt doch etwas mehr Licht in die Sache.

Als das überragende Thema einer nichtwestlichen Soziologie der nichtwestlichen Welt (doppelte Negation, ob das gut geht?) sieht der Doyen dieser Soziologie, Syed Hussein Alatas, die Korruption. Er ist eine der weltweit anerkannten Koryphäen auf diesem Gebiet. Er publiziert seit den 1960er-Jahren zu diesem Thema, das auf eine auf den ersten Blick nicht erkennbare Art und Weise mit dem zweiten großen Thema einer nichtwestlichen Soziologie, wie sie in diesem Themenheft sichtbar wird, zusammenhängt und insofern auch einen Beitrag zur Analyse des Kulturstreits enthält.

Dieses zweite Thema, herausgearbeitet in einem Beitrag von Syed Farid Alatas (ob und wie er mit dem ersten Alatas verwandt ist, ist mir nicht bekannt), betrifft die Frage des Verhältnisses des Islam zum Wissen im Allgemeinen und zu Universitäten im Besonderen. Man ist in der islamischen Welt durchaus peinlich berührt, dass die Universitäten in Bagdad und Kairo zwar älter sind als die Universitäten von Neapel, Prag und Paris, die mittelalterliche Philosophie ohne die arabische Rezeption von Platon und Aristoteles nicht denkbar wäre und viele Begriffe des Universitätslebens aus dem Arabischen stammen (zum Beispiel Baccalaureus von bi-haqq al-riwaya oder Fellow von der lateinischen Übersetzung socius des arabischen Wortes sahib), man sich jedoch in der weltweiten Produktion von Büchern und Wissenschaft mit dem Westen gegenwärtig bei weitem nicht mehr messen kann.

Die Art und Weise jedoch, wie das Thema der Korruption mit dem Thema des Wissens in der islamischen Welt zusammenhängt, ist gleichzeitig ein Hinweis darauf, wo eine der wichtigsten Bruchlinien im Kulturstreit zwischen dem Islam und dem Westen verläuft. Denn die Korruption ist ebenso sehr ein Ergebnis der Beobachtung, dass den Politikern der nichtwestlichen Welt oft der „Charakter“ fehlt, der ihnen dabei helfen würde, den Verlockungen der Korruption zu widerstehen, wie das Wissen, das der Koran seinen Gläubigen sowohl über Gott als auch über Gottes Schöpfung zu studieren auferlegt, ein Wissen ist, das letztlich auf den Charakter des dieses Wissen sich aneignenden Menschen zielt. Um Perfektion geht es hier wie dort.

Syed Hussein Alatas formuliert deswegen eine „Soziologie der Narren“, die darauf hinausläuft, Politikern wie Busfahrern in vielen islamischen Ländern mangelndes Problemverständnis, mangelnde Kritikfähigkeit, mangelnde Konsistenz in Meinungen und Begriffen und mangelnde Reflexion vorzuwerfen. Alatas stellt sich eine „präventive Soziologie“ vor, die dies beschreibt und somit moralischen Druck zur Besserung ausübt.

Dagegen hilft nur ein Wissen, so sekundiert Syed Farid Alatas, das in aller gebotenen Demut auf die Perfektion des Menschen zielt, und eine dementsprechende Wiederaufwertung von Schulen und Universitäten. Aber warum, so muss man zurückfragen, greifen dieser moralische Druck und das universitäre Angebot nicht? Die Antwort scheint einfach. Das Perfektionsideal des Menschen, das hier vertreten und gelebt wird, ist eine Vorstellung einer Gesellschaft, die die flächendeckende Einführung der Kultur des Buchdrucks noch vor sich hat. Die Unruhe, die der Buchdruck (Bücher für alle, Zeitungen, Flugblätter, Papiergeld) in die moderne Gesellschaft gebracht hat und auf den diese Gesellschaft mit der Umstellung vom perfekten auf den perfektiblen, also unruhigen Menschen reagiert hat, ist für die islamische Welt nur ein Zeichen der Dekadenz, kein Zeichen der Moderne, ganz zu schweigen davon, dass diese moderne Buchdruckgesellschaft gegenwärtig von einer nachmodernen Computergesellschaft abgelöst wird.

Es ist nicht ohne Ironie, dass der islamistische Terror den perfekten und damit erlösungsfähigen Menschen (Mann) gegen den ängstlichen und unsicheren Menschen des Westens setzt. Davon lebt der Kulturstreit mindestens ebenso sehr wie von der Auseinandersetzung um den Besitz des Öls und die Rolle der Frau.

An genau dieser Stelle ist die Soziologie hilfreich. Sie beschreibt Muster gesellschaftlichen Selbstverständnisses, deren auch wir uns nur unzureichend bewusst ist. Wer von uns kennt schon den Unterschied zwischen Perfektion und Perfektibilität in seiner Zurechnung auf den Unterschied zwischen Schriftgesellschaft und Buchdruckgesellschaft? DIRK BAECKER