LEICHTATHLETIK-ÜBERTRAGUNGEN, DAS HOFFEST IM HAUS SCHWARZENBERG, AUCH PINGPONGBÄLLE AUF KLAVIERSAITEN VERTREIBEN DIE TRAUER NICHT
: Mitte überleben

VON JENNY ZYLKA

Das Wochenende geriet zunächst irritierend sportlich, denn ich kann mich nur schwer von Live-Leichtathletik-Übertragungen entfernen; man sieht junge Leute selten derartig leidenschaftlich agieren, außer bei Talentshows. Außerdem mag ich die Sekunden direkt vor dem Startschuss sehr, wenn die LäuferInnen wie nervöse Rennpferde um die Startblöcke herumtigern und sich kurz vor dem Hinknien zum Wachwerden ins Gesicht hauen, so wie Leonardo DiCaprio in „Departed“.

Am Samstag schaffte ich es aber per Doping und Dreisprung ins Getümmel, und zwar gleich big time: Das Eschloraque feierte Hoffest. Allein dass das Relikt aus frühester Frühgentrifiziererzeit es geschafft hat, Mitte zu überleben, ist Grund genug mitzufeiern. Zudem spielten Martin Dean, begleitet von Elke Brauweiler, und irgendwie verschwanden angesichts der traurigen, von Bläsern und Viola verschönerten dunklen Chansons sogar die Touristen zwischen den Gesichtern alter FreundInnen. Trauer hatte inzwischen ohnehin bei mir Einzug gehalten in Form der Nachricht des Krebstodes, was sonst, einer Freundin. Die bestimmt gewollt hätte, dass man an sie denkt, über sie spricht und auf sie trinkt.

Zwei Geburtstagsfeste später wurde ich mir selbst aber doch zu unglücklich, und Doping ist ja auch immer nur effektiv, wenn keiner es mitbekommt. Der Sonntag ließ sich dafür hochkulturell begleichen mithilfe des experimentellen Pianisten Hauschka, der für sein Konzert im Rahmen des Um:Laut-Festivals im Radialsystem kurzfristig, also ungefähr zwei Tage vorher, die Zusammenarbeit mit dem Improvisationstänzer Edivaldo Ernesto beschlossen hatte. Und schon war man wieder beim Sport: Was diesem Tänzer so alles einfiel, während Hauschka rhythmisch auf seine mit Taschenuhren, Pingpongbällen und elektronischen Krabbelkäfern beklebten Klaviersaiten hämmerte, sodass man sich schon wegen eines möglichen Klavierarms Sorgen machte! Wie eine Mischung aus Charly Chaplin auf Speed, einer schwer von ADHS betroffenen Marionette und einem Wing-Chun-Meister, der den Moonwalk in petto hat, fegte Ernesto über die Bühne und schwitzte ein Hemd nach dem anderen voll. Als Bandscheibenvorfallopfer verfolgte ich all dies mit einer Mischung aus Neid und Angst: Wieso kann der das? Und wer ist seine Krankengymnastin? Ab und an erinnerte das diagonale Durchmessen der Bühne auch sympathisch an rhythmische Sportgymnastik für Erwachsene oder an das, was Peter Murphy von Bauhaus im Kopf hatte, als er „St. Vitus Dance“ textete: „Back in the good old days when dancing meant exploding / the idea was simple for a decent overloading … it’s the St. Vitus dance! Such flexibility! What an accessory!“ Respekt.

Hauschka sagte später, die Klavierarmgefahr könne er abwenden, weil er gerade eh im Babytragetraining sei, und da sieht man mal wieder, wie einen Haushalt und Kinder auf die täglichen Herausforderungen des Lebens vorbereiten können. Ich denke da gern an eine Illustration aus dem Buch „Schön sein, schön bleiben“, gemeinsam mit dem „Einmaleins des guten Tons“ die Gesundheits- und Manierenbibel meiner Kindheit, auf der eine Hausfrau in Schürze über einen Korb mit Äpfeln und einen umgedrehten Wischeimer hechtet, und darunter steht „Ein bisschen übertrieben – aber auch bei der Hausarbeit gibt es Gelegenheit zur sportlichen Bewegung“. Mein Lieblingsbild aus jenem Buch ist aber die Frau im Nachthemd mit Bierkrug am Mund und der Unterzeile: „Trinken Sie jeden Abend langsam einen halben Liter Starkbier, und Sie schlafen wie ein Bär.“