Anbauen, wo abgebaut wurde

Lars Reifert ist 28 Jahre alt, er ist aufgewachsen mit Abriss und Verfall hier in der Gegend Reiferts Glaube an den Erfolg zeigt sich, wenn er an seinem matschigen Auto steht und vom Wein spricht

AUS MÜCHELN STEFAN RUWOLDT

Lars Reifert trägt eine Arbeitskombi. Und eine Kappe. Ein Basecap. Er fährt einen fünfzehn Jahre alten roten BMW, der komisch aussieht, weil er höher gelegt ist. „Das ist die Federung. Damit wir im Gelände nicht aufsetzen“, erklärt Reifert. Auf der Ablage liegen Postkarten von Anika Hortig. Sie trägt darauf ein weites Kleid, eine Schärpe, und sie lacht. Sie ist die Weinprinzessin des Geiseltals – quasi Reiferts eigene Weinprinzessin, denn er ist der einzige Winzer am Geiseltalsee in Sachsen-Anhalt. Vorerst.

Reifert hält kurz am alten Bahnhof Mücheln, er wendet und zeigt auf das riesige Loch hinter der Straße: „Da fahren wir jetzt hin.“ Reifert erklärt, was er an „hier auf dem Berg“ so komisch findet: „Das war früher alles eine Fläche. Ursprünglich. Flach, höchstens ein wenig hügelig. Dann fand man Braunkohle, und das ganze Gebiet wurde umgewühlt. Mehrere tausend Hektar. Fast hundert Meter tief ist man hier gekommen. Da, wo der See jetzt langsam voll läuft, ist das Tal. Da, wo der Abraum gelandet ist, ist jetzt oben.“ Reifert kennt sich aus.

Vor dreizehn Jahren wurde der Braunkohlentagebau geschlossen. Der alte Bahnhof von Mücheln ist abgesperrt und schon halb abgerissen. Er wird nicht mehr gebraucht, wie viele alte Industriegebäude hier in den Orten um Merseburg. Die Bergleute sind nun ehemalige Bergleute. Sie sitzen zu Hause, sind weggezogen oder gestorben. Oder sie fangen etwas Neues an im Geiseltal. So wie Lars Reifert.

Das Geiseltal ist das perfekte Abbild der Probleme des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, dessen Bewohner am Wochenende ihren fünften Landtag seit der Wende wählen. In der einst berstenden Bergbauregion, in der nichts sicher war vor dem Abraumbagger, mussten in den letzten hundert Jahren – besonders zu DDR-Zeiten – 18 Dörfer „der Braunkohle weichen“, wie der Verlust von Heimat gern umschrieben wird. Mehrere tausend Menschen wurden umgesiedelt, es entstanden Brikett- und andere Braunkohle verarbeitende Betriebe, Zement- und Kalkwerke, außerdem die chemischen Werke Leuna, Buna und Lützgendorf. Das Ende des Ostens war – bis auf ganz wenige Ausnahmen – das Ende der Industrie, das Ende der Sicherheiten.

Lars Reifert fährt zum Neuanfang seiner Familie. Er ist 28 Jahre alt und groß geworden mit Abriss und Verfall hier in der Gegend. Sein Vater, Landwirtschaftsingenieur und seit Jahren Freizeitwinzer an einem kleinen Hang in Freyburg an der Unstrut, und sein Bruder, der in Weischütz eine Kelterei betreibt, helfen ihm. Seit vier Jahren ernten die Reiferts Wein am Südwesthang der Klobikauer Halde, nahe dem Dorf Wünsch. Doch der Hang ist kein traditioneller Weinhang, unten fließt kein sich windender Fluss, nicht einmal ein trauter Bach; es gibt in der Nähe keine Keller, die die seit Jahrhunderten angebauten Jahrgänge bergen. Die Halde ist auch wirklich eine Halde, heißt – nach der Ursache benannt – Baggerloch und deutet auf eine Bergbaufolgelandschaft von Format hin.

Reifert hält gegenüber: für den Blick aus der Ferne, wie er sagt. Der Winter lässt die Hänge hier noch kahler aussehen, als sie ohnehin schon sind. Man muss Reifert ganz genau zuhören, um nur grob erahnen zu können, was das hier werden soll: ein 36 Hektar großes Weinbaugebiet. Die etwa 20 Hektar Reben sollen einmal durchzogen sein von neu angelegten Biotopen. Diese sollen Insekten anlocken, die wiederum für Stare und Feldmäuse verführerisch sein sollen, die dann den hier lauernden Greifvögeln zum Leckerbissen werden. Die Schädlinge sollen sich möglichst lange gegenseitig bekämpfen, bis nur noch der Milan übrig ist, der auch noch gut aussieht.

Reiferts Pläne klingen wie ausgedacht. Sind sie auch. Doch wie es scheint, haben die Reiferts das schlau angestellt: Die Insekten kommen und die Stare und die Greifvögel. Vor allem aber kommt der Wein. Mehr als 8.000 Pflanzen stehen hier nun. Müller-Thurgau vor allem, 4.000 Stöcke, 2.000 Stöcke Spätburgunder und zehn Reihen Cabernet Mitos. 250 Meter lang ist der Hang mit einer durchschnittlichen Neigung von 30 Prozent. Reifert hatte Recht, als er sagte: „Das kann man sich nicht vorstellen, das muss man sich ansehen.“

Unten läuft Wasser in den künftigen See, es braucht noch drei Jahre, um das Baggerloch zu füllen. Sechzig Meter vor Reiferts Reben soll das Wasser stoppen. Man könnte sich angesichts der Erdhügel an den Hängen vorstellen, dass hier eine Autobahn hinsoll oder eine Landebahn oder ein richtig zukunftsorientierter Gewerbepark von besonderer Größe. Reifert zuckt mit den Schultern. „Im Frühling ist das alles grün. Da hat man dann schon einen besseren Eindruck.“

Die LMBV, die Lausitzer und Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft, kündigt auf einem Plakat eine „Erholungslandschaft für das Bade- und Bootvergnügen“ an. Reifert ist nüchterner. Für jede kleine Verbesserung an seinem Weinberg kann er den Aufwand beschreiben. Und die Rückschläge. Er erzählt von Rutschen der Böschung, die ganze Reihen mitgenommen haben, spricht über die Probleme mit der Bewässerung, mit den verschlammten Wegen. Und er erzählt von der Skepsis anderer Winzer. „Die haben abgewinkt. Anfangs. Mittlerweile sind die meisten still.“

Die Reiferts haben sich Hilfe geholt von Fachleuten, die sich abmühten, die Tücken der künstlichen Landschaft vorauszuberechnen. „Wir haben das abgesprochen. Von Anfang an. Mit Dr. Tropp zum Beispiel“, sagt Reiferts Vater, Rolf. Später erzählt er noch von Professor Müller, von den Universitäten und Hochschulen in Erfurt, Halle und Merseburg. Von Biologen, Geologen und Statikern. Er versucht, keinen zu vergessen. Nicht den Herrn Rüssel, den Ornithologen, und nicht die Erntehelfer, Freunde und Bekannte, meist ehemalige Bergleute.

Das hört sich nach „generalstabsmäßig“ an und nach „Aufbau Ost“. „Wie hoch die Fördersumme war?“, wiederholt Lars Reifert mit aufgestelltem Hals. „Für einen Weinberg kriegen sie keine Fördergelder, nichts.“ Ob das in Sachsen oder im Rheinland anders wäre, weiß er nicht. Reifert will nicht spekulieren. Er sagt: „Man muss geduldig sein. Anfangs hatten wir sogar Probleme, Rebkontingente zu bekommen.“

Reifert stöhnt nicht und beschwert sich nicht. Wenn er bei der Wasserwirtschaft Feierabend hat, fährt er in sein Weinlager, um die Flaschen zu verpacken; oder er bereitet sich auf eine Messe vor; oder er spricht mit seinem Vater über die Bewässerung. Über den Druck oben am Hang und den Druck unten im Tal.

Der Berg liegt im Regenschatten des Harzes. Er braucht Wasser, das die Reiferts nicht einfach aus dem See nehmen dürfen. Für die Beregnung haben sie einen 50.000-Liter-Tank auf den Hang gebracht. Wasser für den Wein am Wasser? Reifert nickt. Er lebt mit den Absurditäten seines Geschäfts. Er weiß, dass vieles unglaubhaft klingt, komisch und außerordentlich kompliziert. Er ist dankbar für Verständnis und dankbar dafür, dass er erzählen kann, was er und sein Vater sich ausgedacht haben: Der Tank füttert die so genannte Tröpfchenbewässerung, auf die Reifert ausgesprochen stolz ist. Denn ohne die Versorgung durch einzelne dünne, an die Weinstöcke verlegte Rohre würden die Stöcke der Reiferts vertrocknen. „Aus der Wüste haben wir uns das Prinzip abgeguckt“, erklärt Reifert. Er klopft gegen einen Schlauch, wackelt an einem Hahn und nickt. Er ist stolz, denn das System funktioniert.

Wenn Reifert von seinen Lösungen erzählt, rückt er nach und nach mit den Problemen heraus: von einer mehrere hundert Meter langen Auffahrt zum Berg, die den gesamten Herbst und Winter für Fahrzeuge nahezu unpassierbar war, oder von seinen Geschäftspartnern. „Als wir Etiketten drucken lassen wollten, mussten wir in Vorkasse gehen“, sagt Reifert. Er steht dabei auf einem schlammigen Weg, vor einem Rekultivierungsacker an einem wegen der Rutschungen noch immer teilweise gesperrten Tagebauloch. Wer will es Reiferts Geschäftspartnern übel nehmen, wenn sie ihm den Glauben an den Erfolg lassen, aber erst einmal ihr Geld einfordern? Reifert hat bezahlt und überlebt. Und wer ihn hier an diesem Hang sieht, glaubt ihm, dass er für alle Probleme eine Lösung findet, bis er im Herbst wieder ernten kann. Er hat keine andere Chance.

Dass zu Reiferts Erfolg nicht nur Wissen und Geschick, sondern auch der Glaube an seine botanischen und damit auch an seine geschäftlichen Möglichkeiten gehört, ist wichtig. Reiferts Glaube zeigt sich, wenn er an seinem matschigen Auto steht und von der Besonderheit des Hangs erzählt. Windgeschützt liege er und – wegen der Nähe zum Wasser – nahezu frostsicher. Und er erzählt von der Sonne, die sich im Wasser des Sees spiegelt, was gut ist für den Wein. Reifert spricht seinen Cabernet mit langem e und ohne t aus. Richtig Französisch aber ist hier nichts. Reiferts Wein wird „angebaut“ nachdem hier früher „abgebaut“ wurde. Das Etikett ziert kein französischer Text, sondern der Steiger mit seiner Schaufel, der Bergmann.

An seinem Stand auf der Verbrauchermesse in Halle liegt vor den Reihen mit den Weinen eine Bildmappe. Panoramafotos vom Frühling am Hang, Bilder vom See, Bilder von der Ernte. Reifert hat den einzigen Messestand, der nur Weine eines so kleinen und regionalen Weinguts hat. An den anderen Tischen sitzen die Vertreter neben Brotkörben und bieten Verträge für periodische Lieferungen. Reifert steht. Vor sich hat er sechs Sorten mit den Etiketten seines Weinbergs aufgestellt.

„Ich gebe Ihnen hier mal eine Liste, damit Sie sehen, was es bei uns so alles gibt.“ Reifert erklärt: „Ja, ich liefere. Aber hier wollen die Leute keine Verträge abschließen. Sie wollen kosten, was erfahren und eine Flasche für den Abend oder das nächste Wochenende mitnehmen.“ Reifert stößt mit den Leuten an und lädt sie ein, sich seinen Weinberg anzusehen. „Goldener Steiger“ ist Reiferts Tagebau-Marke. „Der kommt direkt von dort“, sagt Reifert den Leuten, die fragen. Die schwenken die Gläser. Sie schlürfen, gurgeln ein bisschen und imitieren Paul Bocuse an einem Holzfass in der Provence, wenn sie kurz die Augen schließen und schlucken. Reifert hilft ihnen. Er schenkt nach und nickt bestätigend, wenn die Leute schlürfen: „Und jetzt hier was Kirschiges, das vorher war eher beerig.“

Die Leute kommen, fragen, kosten und wollen mehr Wein. Sie sind neugierig und schütteln den Kopf. Dann erzählen einige von ihnen vom Kohletagebau, dass sie da mal gewohnt haben und wegmussten oder dass sie da gearbeitet haben und dann auch wieder wegmussten. Sie nehmen Wein und stoßen selbst beim Kosten miteinander an. „Für einen schönen Abend so mal“ oder „Vielleicht ein gutes Schlückchen für was Besonderes“ oder „Davon kann man auch mal zwei trinken“, sagen sie, wenn sie sich Reiferts Wein in ihre Plastebeutel stecken. Sie nicken zum Abschied, als müssten sie sich für den Wein, der ihnen schmeckt, entschuldigen.