Schief gewuselt

Ein erkenntnisarmer, aber blut- und fäkalienreicher Feldzug gegen Ärzte, Krankenkassen und larmoyante Selbsthilfegruppen: Jan Faktors verunglückter Schelmenroman „Schornstein“

von ANNE KRAUME

Das Schönste an diesem Roman ist sein Cover. Es ist fast weiß, nur ganz außen am rechten Rand, da, wo man das Buch aufschlägt, balanciert ein Mann mit Jeansjacke und Basecap einen Steg entlang, auf einem schmalen gemauerten Bord, in dem man mit viel Fantasie einen Schornstein erkennen kann. Er wendet sich ab, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen ist, und beim Betrachten weiß man nicht recht, ob er weiterbalancieren oder runterspringen wird.

Schornstein“ heißt der erste und im vergangenen Jahr mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnete Roman des gebürtigen Tschechen Jan Faktor, der seit 1978 in Deutschland lebt und schon im literarischen Untergrund der Achtzigerjahre in der DDR experimentelle Texte und Manifeste verfasst hat. So wie die Figur auf dem Cover, so balanciert einmal auch Faktors Protagonist Schornstein, einen Vornamen hat er nicht, auf dem Dach seines Hauses, ehe er allerdings die Balance verliert und von der Leiter herunter auf den Kopf fällt. Denn der leicht abgewandte Schwebezustand, den das Buchcover mit seinem einsamen Wanderer auf dem Dach zu suggerieren scheint, hat leider mit der Geschichte, die Jan Faktor in „Schornstein“ erzählt, überhaupt nichts zu tun. Da geht es immer schnell wieder auf den Boden der durchaus drastischen Tatsachen – und dabei kann man schon auch mal auf den Kopf fallen.

Schornstein ist Werbetexter. Eigentlich. Denn sehr bald schon ist er nach einem Herzinfarkt und mit seiner seltenen Stoffwechselkrankheit, die regelmäßig eine bestimmte Form der Blutwäsche erforderlich macht, hauptberuflich Kranker – zumal auf diesem Gebiet noch eine Menge Arbeit wartet. Als seine Krankenkasse ihm nämlich mitteilt, sie werde die Kosten für seine Behandlung nicht weiter übernehmen, weil keine aussagekräftigen Studien über deren Wirksamkeit vorlägen, beginnt für Schornstein ein grotesker Feldzug. Ein Feldzug gegen die Funktionäre der Kassenärztlichen Vereinigung, gegen ignorante Ärzte, larmoyante Selbsthilfegruppenmitglieder, gegen den drohenden Nervenzusammenbruch und nicht zuletzt gegen das Chaos, das sich bald schon nicht mehr nur in Schornsteins Wohnung und der eigentlich penibel geplanten Dokumentation seines Feldzugs ausbreitet, sondern das zunehmend sein ganzes Leben erfasst.

Als Schornstein am Schluss – nach einem Hörsturz, einer abgebrochenen psychotherapeutischen Behandlung, diversen Versuchen der Selbstmedikation und einigen splattermovieartigen Blutwäscheszenen die entscheidenden Informationen zusammengetragen hat, muss er erkennen, dass sie ihm nichts mehr nützen: Mit der Zeit sind ihm in seinem Kampf, der nicht nur ihn selbst an Michael Kohlhaas erinnert, die Gegner allesamt abhanden gekommen.

Marode wie das Haus, in dem Schornstein und seine Frau Anne leben – durch das Dach tropft das Regenwasser, im Treppenhaus übernachten schon mal die Obdachlosen vom Platz vor der Kaufhalle, und im Erdgeschoss sorgt Frau Schwan für Geruchsterror, weil in ihrer Wohnung tote Ratten von Maden zerlegt werden und sie selbst ihren künstlichen Darmausgang vorzugsweise bei offener Wohnungstür über dem Spülbecken in der Küche säubert – marode wie dieses Haus ist das System, gegen das Schornstein ankämpft. Korruption, fehlgeleiteter Ehrgeiz, Eitelkeiten und Behördenwirrwarr – das allerdings ist so ziemlich die einzige Erkenntnis, die sich nach 280 Seiten einstellt. Der Aufwand, den Jan Faktor zur Illustration dieser Erkenntnis betreibt, ist aber enorm; vor allem der Aufwand, blut- und fäkaliengetränkten Ekelszenen zu schildern

Die gewollte Ironie, mit der Jan Faktor seinen Ich-Erzähler Schornstein dabei mit der Frage nach seiner jüdischen Identität umgehen lässt, macht nichts besser. Wenn nämlich beharrlich von der „Gaskammer“ der Frau Schwan im Erdgeschoss die Rede ist und auch Anspielungen auf die unheilvolle doppelte Ebene des Namens Schornstein für einen Mann nicht fehlen dürfen, dessen Mutter und dessen Großmutter Theresienstadt und Auschwitz knapp überlebt haben, dann ist die mühsame Ironie nicht nur wirkungslos, sondern wird tatsächlich jene Schmerzgrenze überschritten, die der Roman mit seinen optischen und olfaktorischen Ekelorgien vorher schon in regelmäßig Abständen touchiert hat.

In diesem Roman ist alles schief – Schornsteins Kampf gegen die Windmühlen der Kassenärztlichen Vereinigung ist zu wenig komisch, um fesselnd zu sein, die fiesen Kotz- und Blutszenen ermüden irgendwann nur noch, und die Anspielungen des Ich-Erzählers auf seine verdrängte jüdische Identität führen im Zusammenhang mit seiner Rebellion gegen das deutsche Gesundheitssystem ins Leere. Auch die romantische Liebe, die Schornstein mit seiner aufopferungsvollen Frau Anne verbindet, rettet diesen verunglückten Schelmenroman nicht vor dem endgültigen Scheitern durch Inkohärenz. Denn dazu ist Anne, die gern auch mal in der Küche „wuseln“ darf und in deren Zimmer es so „fraugetränkt“ wie nirgends sonst duftet, einfach in jeder Hinsicht zu aufopferungsvoll.

Jan Faktor: „Schornstein“. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 283 Seiten, 19,90 Euro