Große Depression

Wie ein Drama zu Skizzen zusammenschrumpelt: „Die Vaterlosen“ von Tschechow unter der Regie von Stefan Pucher an der Berliner Volksbühne

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Ein Mann will eine Geschichte erzählen, vielleicht seine eigene. Irgendwann, so könnte man sich vorstellen, ist ihm nach vielen Umzügen, Totalabstürzen im Suff und Stationen der Verarmung, nur noch eine Kiste geblieben mit ein paar alten Platten von Bob Dylan und einem Fotoalbum, in dem die eine Hälfte der Bilder fehlt und die andere schon alle Konturen verloren hat – ähnlich wie sein Gedächtnis. Jetzt hört er ein bisschen Musik, hängt ein wenig ab und denkt zurück.

So ungefähr, zerfleddert und stochernd in einem Gewebe mit vielen Löchern, sieht die Inszenierung der „Vaterlosen“ von Stefan Pucher an der Berliner Volksbühne aus. Auch das Textheft, „Platonow“ in der Übersetzung von Thomas Brasch, muss inzwischen viele Seiten eingebüßt haben. Dafür kehren einige Szenen mit genau der Hartnäckigkeit wieder, mit der Betrunkene sich wiederholen. Zum Beispiel der Moment, in dem Michel seine Frau so lange und so intensiv mit seinem Unglauben in ihre Liebe quält, bis sie wirklich ihre sieben Sachen packt und schnurstracks davonläuft.

In der Hauptsache aber sind Skizzen von Menschen übrig geblieben, die gerade nicht mehr so genau wissen, wer sie eigentlich sind. Sie machen zusammen Musik, vielleicht weil das einfacher ist als jede andere Form der Kommunikation. Sie wissen allerdings auch, dass sie ein wenig lächerlich sind in ihren Künstlerposen. Aber trotzdem spielen sie oft, und das Stück schrumpft dementsprechend auf die Konzertpausen zusammen.

Es treten auf: eine sittenlose Frau, der Beschäftigungsmangel nur die Libido als Tätigkeitsfeld übrig gelassen hat. Ein junger Mann, der alle Illusionen durchschaut zu haben glaubt und wie ein Greis redet. Ein Mann, der nicht mehr schlafen kann und den Mond anklagt, der ihn vom Mondschein ausschließt. Ein reicher Mann, der den Verlust der Tränen von früher betrauert. Ein Dieb (und möglicherweise Mörder), der alle beschimpft und ihnen ihr Pariasein unter die Nase reibt.

Tatsächlich sind nicht mehr als Auftritte vom Theater übrig geblieben. Das durchweg interessante Ensemble – mit Bettina Stucky, Bibliana Beglau, Wolfram Koch, Stipe Erceg, Lars Rudolph und anderen – spielt übrigens auch kaum miteinander, sondern lungert mehr oder weniger unterbeschäftigt auf der Bühne herum.

Das passt natürlich zu Tschechow und den ständigen Sinnkrisen seines Personals wegen intellektueller, seelischer und sexueller Unterforderung, und es passt gut zu den Krisen der Gegenwart. Mit dem Aufspüren solcher Parallelen und dem raffinierten Verweben von Tschechow-Aufführung und der Beobachtung des Theaters bei der Arbeit hat Stefan Pucher auch in früheren Inszenierungen viel zur Erneuerung der Attraktivität von Tschechow beigetragen. Aber dieses Mal versackt das Stück selbst in den Löchern, die es eigentlich beschreiben will.

Und es gibt verdammt viele Rätsel, die wie erratische Blöcke über die eh schon fragile Konstruktion gestreut sind. Warum werden wir am Anfang in eine scheußliche Kulisse aus Bast und Bambus geschickt, mit Maskentänzern und Ethnofolklore, während im Hintergrund ein Film läuft, der mit Samowar und Gartenidylle wie Tschechow zu Defa-Zeiten aussieht – der Mensch als Tourist im eigenen Leben? Warum zeigt eine andere Videoeinspielung das Ensemble bei einem Ausflug an einen stacheldrahtbewehrten Zaun, so dass man an Lager und Völkermord denkt – Markierung des Bruchs des Grundvertrauens in die Menschheit? Man fühlt sich nicht wohl beim Versuch, die Zeichen zu lesen.

Die Inszenierung endet mit einem gewaltigen Schlussakkord, an dem nur eines stört: dass er formal dem Ende vom letzten Stück der Choreografin Meg Stuart, auf der gleichen Bühne aufgeführt, so sehr ähnelt. Als ob die beiden (Stefan Pucher und Meg Stuart), die lange ein Liebespaar waren, sich jetzt beklauen würden, um miteinander zu konkurrieren. Eine gewaltige Installation aus zwei Schrägen wird aufgebaut, und Chris Kondek, der Regisseur der Videobilder, lässt über die Flächen Schrift, Schatten und Blitze sausen. Letzte Sätze sind zu lesen: „Entschuldigung, ich bin verrückt geworden“ und „Er hat sich erschossen“. Dann kommen die Schauspieler, und in einem wirklich beklemmenden Stück Bewegungstheater versuchen sie, die Schräge zu entern, und rollen immer wieder herab.

Manchmal wünsche ich mir, Theater wäre nicht so sehr an Anfang und Ende gebunden, sondern man könnte darin herumgehen wie in einem Haus. Ganz sicher würde ich dann in einige der Probenräume, wo die Jungs immer Musik machen müssen, nur kurz hineinschauen. Beim schlaflosen Mann und der sittenlosen Frau würde ich gern länger verweilen und am allerlängsten in der Szene mit dem schönen Satz: „Ich könnte immer so bei dir sitzen und Kartoffeln essen.“