Zwei Fäuste für Kiew

Vitali Klitschko, ukrainischer Ex-Boxprofi, will morgen Bürgermeister der Stadt Kiew werden. Hat der Anhänger der Demokratiebewegung bei den Wahlen eine Chance?

Seine Prinzipien seien Offenheit und Ehrlichkeit, daher wettert er gegen die korrupte Beamtenschaft. Das kommt an

AUS KIEW BARBARA OERTEL

An dem Dutzend orangefarbener Zelte auf der Kiewer Hauptstraße Chrestschatik kommt an diesem Abend keiner vorbei. Ein junger Mann setzt sofort zum Sprung an. Über seiner Winterjacke trägt er eine grellorange Weste und einen Schal in ähnlichem Farbton, auf dem „Ja Klitschko“ steht und eine geballte Faust abgebildet ist. „Hier bitte“, sagt er und drückt jedem gnadenlos einen Stapel Papier und ein Büchlein in die Hand. Die Lobeshymne „Der unbesiegbare Klitschko“ aus der Reihe „Männergeschichten und der weibliche Blick“ der russischen Fernsehjournalistin Oxana Puschkina wird dieser Tage zu tausenden Exemplaren unters Kiewer Volk gebracht. Darauf sind ein strahlender Vitali Klitschko samt zwei seiner Kinder abgebildet. Schon der Klappentext macht jede weitere Lektüre überflüssig: „Von so einem Sohn träumen die Mütter. Von so einem Mann träumen die Frauen. Von so einem Bruder träumen die Jungen. Von so einem Vater träumen die Kinder. Von so einem Sportler träumen die Trainer. Auf so einen Sohn kann ein Land stolz sein.“

Ein paar Meter weiter ist eine orangefarbene Bühne aufgebaut. „Die Ehrlichkeit jedes einzelnen ist die Stärke des Staates“, verkündet ein großes Plakat. Auf zwei Monitoren sind immer wieder die gleichen Bilder zu sehen: Tausende jubelnde Demonstranten im Dezember 2004 auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz Maidan. Und mitten unter ihnen Vitali Klitschko, an der Seite der siegreichen, damals noch verbündeten Revolutionäre in Orange – des jetzigen Staatspräsidentin Wiktor Juschtschenko und der geschassten Regierungschefin Julia Timoschenko.

Gleich soll er sprechen, der berühmte Boxweltmeister, der nichts Geringeres vorhat, als nach dem Ende seiner Profikarriere am kommenden Sonntag den Posten des Bürgermeisters der ukrainischen Hauptstadt zu erobern. Auch bei den parallel stattfindenden Parlamentswahlen tritt der ehemalige Spitzensportler an. Er kandidiert auf Platz eins des orange Bündnisses aus der Jugendbewegung Pora und der Partei für Reformen und Ordnung (PRP). Jedoch hat Pora-PRP nur geringe Chancen, die erforderliche Dreiprozenthürde zu nehmen. „Klitschko, Klitschko!“, skandiert die Menge, als der Zweimetermann die Bühne betritt und die Mitglieder seines Teams fast zu Zwergen schrumpfen lässt. Etwas steif steht Klitschko da, in seinem dunklen Kaschmirmantel, bevor er das Mikrofon ergreift. „Ich stehe heute vor Ihnen nicht als Sportler, sondern als Kandidat. Ich habe lange im Ausland gelebt, und mir ging es gut. Aber dort wäre ich immer nur ein Gast geblieben. Nur mit der Ukraine verbinde ich meine Zukunft“, sagt er. Dann ist die Schonzeit für seine Gegner vorbei. Klitschko greift an.

Er wettert gegen die durch und durch korrupte Kiewer Beamtenschaft, die sich nach wie vor dreist die Taschen fülle und auch noch auf den Listen aller möglichen Parteien kandidiere. Gegen Spekulationen mit Baugrund, die in Kiew mittlerweile zu den höchsten Wohnungspreisen in Europa geführt hätten. Kiew, diese einzigartige Stadt, sei zu einem Steindschungel verkommen. Er kenne die Probleme der Menschen. Komme seine Mutter in die Kommunalverwaltung, nütze ihr der Name Klitschko nichts, sie stehe genauso lange in der Schlange, wie alle anderen. Es tue ihm weh, wenn er in Kiew Menschen sehe, die im Müll nach etwas Essbarem suchten. „Meine Prinzipien sind Offenheit und Ehrlichkeit. Jeder Beamte, der sich nicht an diese Regeln hält, wird sofort entlassen. Ich werde dafür sorgen, dass die Immunität im Stadtparlament abgeschafft wird“, sagt Klitschko. Das kommt an, wieder ertönen „Klitschko, Klitschko“-Rufe.

Dann haben die Zuhörer das Wort. Eine alte Frau in einem abgetragenen Mantel hat sich zur Bühne vorgearbeitet. „Vitali“, sagt sie auf Ukrainisch, „Sie haben viel für das Bild der Ukraine im Ausland getan, ich bin Ihnen so dankbar. Aber ich habe nur eine kleine Rente. Sagen Sie, werden Sie auch dagegen etwas tun?“ Klitschko schaltet von Russisch auf Ukrainisch um. Ja, sagt er und man merkt, dass er sich mit dieser Sprache noch schwer tut, das sei schon eine Schande, 600 Griwna Rente monatlich (100 Euro), das reiche ja gerade einmal für zweimal einkaufen im Supermarkt. Bisher hätten sich die Politiker nicht für die Probleme der Rentner interessiert, aber er werde das ändern. „Ich werde alles dafür tun, dass das Leben in Kiew besser wird. Kiewer, ich will für euch arbeiten“, ruft Klitschko.

Nach einem Dutzend weiterer Fragen tritt der Hüne ab. Sofort stürzt sich die Menge, bewaffnet mit der Klitschko-Bibel, auf den Kandidaten. Lässig pflückt Klitschko ein Exemplar nach dem anderen aus den hoch gereckten Händen und kritzelt ein kunstvoll geschwungenes K auf die erste Seite. „Klitschko ist reich und hat gute Beziehungen ins Ausland“, sagt ein junger Mann, der dem 35-jährigen Politikneuling seine Stimme geben will. „Er kann wirklich etwas für Kiew tun.“

Wie sich Vitali und sein noch boxender Bruder Wladimir schon jetzt für die Hauptstadt einsetzen, ist in der Bassejnastraße Nr. 6 in bester Zentrumslage zu erfahren. Hier residiert, in einem mehrstöckigen verspiegelten Geschäftshaus mit Luxusautos in der Parterreauslage, die „Stiftung der Klitschko-Brüder“. Hanna Starostenko, 28-jährige promovierte Politikwissenschaftlerin und Absolventin der Europa-Universität in Frankfurt (Oder), die die Stiftung seit dem vergangenen September leitet, sprüht förmlich vor Energie, wenn sie von den Wohltaten des Klitschko-Doppels berichtet: Zwei Waisenhäuser werden von den Brüdern unterstützt. Unter dem Motto „Wähle mit dem Herzen“ werden Studenten und junge Wissenschaftler so viel versprechender Fächer wie Kulturwissenschaft, Archäologie, Philosophie oder Umweltschutz großzügig gefördert. Das Projekt „Ruf Deine Freunde und lass uns zusammen spielen“ hat Kiew bislang 15 Spiel- und Sportplätze beschert. „Vitali und Wladimir Klitschko sind ein großes Vorbild für die Jugend. Sie haben bewiesen, dass jeder aus eigener Kraft etwas erreichen kann. Diese Tugenden wollen wir an die Kinder weitergeben“, sagt sie.

Als Hanna Starostenko von Vitali Klitschkos Besuchen in Kranken- und Waisenhäusern erzählt, kennt die Bewunderung keine Grenzen mehr. Wie die Patienten einer Kinderkrebsstation nur deshalb Milch getrunken hätten, weil Klitschko sie ihnen gebracht habe. Wie er dort ein Mädchen gestreichelt und zu ihr „meine Prinzessin“ gesagt habe – so wie er auch seine Tochter manchmal nenne. „Wenn er Kinder sieht, die keine Überlebenschance haben, steht er ganz hilflos vor dem Krankenbett. Er kann nichts tun, und diese Ohnmacht zeigt er auch. Er ist eben ein sehr emotionaler Mensch und hat nicht nur große Fäuste, sondern auch ein großes Herz“, sagt Hanna Starostenko.

Doch nicht alle glauben an das große Herz und die tiefe, selbstlose Heimatverbundenheit des früheren Weltklasseboxers. Flugblätter mit dem Namen „Die Wahrheit“ (über Klitschko), die sogar noch das ehemalige sowjetische gleichnamige Parteiblatt Prawda überbieten, klären die Kiewer über den wahren Klitschko auf. „Wie schmutziges Geld gewaschen wurde“, lautet eine Überschrift, Fotos zeigen Vitali Klischko zusammen mit bekannten Größen der ukrainischen Unterwelt. Auf der letzten Seite hat sich der Autor die Mühe gemacht, akribisch aufzulisten, wie viele Tage Klitschko zwischen dem 5. April 2002 und dem 24. Januar 2006 in seiner angeblich so geliebten Heimat verbracht hat. Das Ergebnis: 293 Tage. Könne so jemand ein Patriot sein? Das müsse der Leser entscheiden.

Ob derlei Propaganda verfängt, ist fraglich. Umfragen sehen Klitschko bei 20 Prozent und damit auf dem zweiten Platz, seinen stärksten Gegner und derzeitigen Amtsinhaber Alexander Omelschenko, der die Revolution in Orange unterstützte, jedoch bei 40 Prozent. Zoja Otscherednaja lässt sich dadurch nicht beeindrucken. Die 62-Jährige wird am kommenden Sonntag in einer Kiewer Wahlkommission sitzen und darüber wachen, dass nicht wieder, wie 2004, Stimmzettel auf wundersame Weise verschwinden oder Abstimmungsergebnisse von 104 Prozent erreicht werden. Für sie wäre Klitschko die Idealbesetzung für den Bürgermeisterposten. Dass er kein Politiker ist – umso besser. Der Sport habe ihn zum Kämpfer gemacht, immer das Ziel vor Augen, Erster zu werden. Er habe gelernt, seine Möglichkeiten realistisch einzuschätzen.

Was spricht noch für Klitschko? „Er ist wirtschaftlich unabhängig und bestimmt nicht des Geldes wegen hergekommen. Wenn er auftritt, sehe ich auch einen Intellektuellen“, sagt Zoja Otscherednaja und spielt damit auf Klitschkos akademische Weihen als Doktor der Sportwissenschaften an. Man darf daran zweifeln, ob sein Intellekt ihm im harten Kiewer Alltag helfen wird. Aber Klitschko hat bekanntlich noch andere Möglichkeiten, sich mit seinen Gegnern auseinander zu setzen.