Die Zelte sind weg

AUS MINSKMORITZ GATHMANN

Am Donnerstagabend hatten sie noch Witze darüber gemacht, wie lange sie mit so viel Proviant ausharren könnten, hatten sich auf die vierte eiskalte, aber friedliche Nacht in Folge in ihrem kleinen Zeltlager auf dem Minsker Oktoberplatz vorbereitet. Über den Köpfen der Demonstranten flatterten neben der inoffiziellen belorussischen weiß-rot-weißen Flagge die ukrainischen, polnischen und georgischen Flaggen.

Gegen 3 Uhr nachts rückte jedoch völlig unerwartet eine Hundertschaft Polizisten an und setzte dem Zeltlager der Freiheit ein jähes Ende. Dabei, so bestätigen es Beobachter, sei es kaum zu Gegenwehr gekommen. Innerhalb von 15 Minuten wurden die etwa 200 Demonstranten in Busse verladen und dann in Gefängnisse verteilt, unter ihnen auch der 21-jährige Igor, Sohn des Oppositionsführers und Präsidentschaftskandidaten Alexander Milinkewitsch.

Am nächsten Mittag sind alle Zelte und Aufkleber entfernt – nur die patrouillierenden Omon-Polizisten erinnern daran, dass hier mehrere Tage lang die weißrussische Jugend gegen das Regime Lukaschenko aufbegehrte. Aber sie wollen nicht aufgeben: Die Studentin Inga hat sich mit Freunden schon für den Abend zu weiteren Aktionen in der Innenstadt verabredet.

Für den Samstag hat Milinkewitsch zum so genannten „Tag der Freiheit“ die Belorussen aufgerufen, um 12 Uhr auf den Oktoberplatz zu kommen, was jedoch „nicht den Charakter einer politischen Demonstration, sondern den eines Festes“ tragen soll. Geplant ist ein Konzert weißrussischer Rockgruppen. Noch ist aber nicht einmal sicher, ob die Sicherheitskräfte die Demonstranten überhaupt auf den Platz lassen werden.

Der „Tag der Freiheit“ ist ein umstrittenes Datum: Offiziell wird er nicht anerkannt, weil er an die Gründung der ersten Belorussischen Volksrepublik 1918 unter dem Schutz der Deutschen erinnert. Schon in den vergangenen Jahren war es deshalb zu Zusammenstößen mit der Polizei gekommen.

Die EU scheint derweil ihre Politik gegenüber Belarus weiter zu verschärfen: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier sagte nach dem gestrigen EU-Gipfel, dass die Verantwortlichen für die Ereignisse der Nacht mit Reisebeschränkungen rechnen müssten.

Diese Art von Sanktionen wird von den belorussischen Regimegegnern begrüßt. Milinkewitsch würde den Kreis der „unerwünschten Personen“ sogar noch ausweiten, unter anderem auf „all die ehrlosen Journalisten, die jeden Tag im staatlichen Fernsehen ihr Volk belügen“. Die verleumderische Berichterstattung des belorussischen Staatsfernsehens über die Proteste hatte am Morgen nach der Räumung einen neuen Tiefpunkt erreicht: Das „Ende der blauen Revolution“ auf dem Oktoberplatz wurde mit Bildern von pornografischen Heften, Alkoholflaschen und Spritzen illustriert.

Die Reisebeschränkungen der EU für Angehörige des Systems Lukaschenko treffen nach Meinung von Wasili, Direktor eines Reiseunternehmens, genau ins Schwarze. „Die Profiteure des Systems fahren BMW, sie lieben die Vorzüge der westlichen Welt: Skifahren in den Alpen, Sonnen an der Cote d’Azur.“

Milinkewitsch beschwor am Freitag erneut die Schlüsselrolle Russlands für einen Wandel der politischen Situation in Belarus und forderte das Nachbarland auf, seine Unterstützung für den „Usurpator Lukaschenko“ zu überdenken. Dies erscheint im Moment jedoch als unwahrscheinlich. Russlands Außenminister Sergei Lawrow attackierte gestern die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE): Sie hätte schon „weit vor den Wahlen über deren angebliche Unrechtmäßigkeit gesprochen“ und damit „eine Rolle als Brandstifter gespielt“.