Wenn Gott tot ist, gibt es nur Geplärr und Geleier

Schriften zu Zeitschriften: Die Kulturzeitschrift „du“ verhandelt Johann Sebastian Bach. Ein kompromissloses Lebensgefühl bricht sich dabei Bahn

Ein Schwerpunkt-Heft zum Thema Johann Sebastian Bach mitten im Mozartjahr? Was mögen sich die Macher der Schweizer Kulturzeitschrift du bloß dabei gedacht haben? Zugegeben, am 21. März 2006 feierte der in Eisenach geborene Komponist seinen unrunden 321. Geburtstag. Doch der eigentliche Jubilar dieser 764. Ausgabe von du ist die Zeitschrift selbst. Vor genau 65 Jahren, im März 1941, ist sie erstmalig erschienen.

Dem Thema in eigener Sache widmet man gerade mal eine Seite. Abgedruckt ist das Editorial der ersten Stunde, in dem der damalige Chefredakteur Arnold Kübler begründete, wie die Zeitschrift eigentlich zu ihrem kurzen Namen kam: „Wir erleben Krieg um uns, Verarmung um uns und bei uns.“ Titelvorschläge wie Imago oder Der rote Rabe könnten unter solchen historischen Umständen den Nerv der Zeit nicht wirklich treffen. Was man den kulturinteressierten Lesern aber habe mitteilen wollen: „Du bist nicht für dich allein da. Du hast Verantwortungen und Aufgaben jenseits deiner persönlichen Neigungen und Abneigungen.“ Du eben.

Und dass ein schlichtes Wort wie „du“ auch heute noch das Potenzial birgt, provokative Schwingungen auszulösen und fragile Identitätskonstruktionen aufzurütteln, hat man ja gerade erst bei der jüngst zu Ende gegangenen Medienkampagne zum Thema Deutschland bemerkt: Verbirgt sich hinter der vertraulichen Ansprache du im Einzelfall womöglich ein Ich, ein Wir oder gar ein Ihr?

Fühlt man sich denn überhaupt angesprochen, aufgenommen, vereinnahmt – oder muss und will man sich selbst lieber davon abgrenzen?

Darüber kommt man auch schon unversehens zum Thema Bach. Denn wo kann ein klangempfängliches Du den auf die eigene Identitätskonstruktion wirkenden Sog schon besser nachvollziehen als im Bereich der Musik? Der Fotograf Laurenz Berges hat zunächst einmal nur die Landschaft auf sich wirken lassen, in der sich Bachs Leben vor rund 300 Jahren abgespielt hat: Weimar, Ohrdruf, Wechmar, Eisenach, Mühlhausen, Arnstadt und Dornheim – ein „Mitteldeutschland, das, auch wenn die Kamera auf Plattenbauten oder einen Rover mit Gothaer Kennzeichen hält, nach Landsknechtzügen, Kohlefeuern, Rabenkrächzen schmeckt“, wie man die verfallende Leere des kulturträchtigen deutschen Mezzogiorno aus Schweizer Perspektive eben etwas verklärend wahrnimmt.

Doch das hat vielleicht schon etwas mit der Wahrnehmung von Bachs Musik zu tun. So kann man diese ostdeutsche Landschaftsschilderung unbedenklich mit dem Beitrag des Cantus-Cölln-Bratschisten und Musikjournalisten Volker Hagedorn fortsetzen, der von seiner letzten Konzertreise im Bus nach Albanien berichtet: „Immer wieder sahen wir Tierteile von Telegrafenmasten baumeln. Und ich hörte dazu das Credo aus Bachs H-Moll-Messe, mit der wir unterwegs waren.“

In fast allen Beiträgen des Hefts bricht es sich irgendwann Bahn: ein archaisch-kompromissloses Lebensgefühl, das sich anscheinend aus den subjektiven Hörerlebnissen mit der Bach’schen Musik speist – Entrückung, Verzückung, Entsagung, ein wacher Zustand apathischer Weltwahrnehmung, in dem alles anwesend ist und nichts mehr zählt. Ein platonischer Seelenflug, auf dem die eigene Welt zu einem Film wird, in dessen Handlung man aufgeht, ohne wirklich dazuzugehören. Hagedorn weiß genau, wie es sich bei Bach anfühlt, wenn man drin ist: „Aus dem Horizontalen der Zeit, dem Vergehenmüssen, ist eine Vertikale geworden, ein anhaltender Moment, in dessen Weite eine unerklärliche Geborgenheit entsteht.“

Sollte man jetzt noch etwa ernsthaft, sachlich und objektiv darüber zu diskutieren beginnen, warum das gute Musik ist? Mit Bach selbst hätte das wohl kaum hingehauen. Für ihn soll „aller Musik Finis und Endursach anders nicht als nur zu Gottes Ehre und Rekreation des Gemüths sein. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ist’s keine eigentliche Musick, sondern ein teuflisch Geplärr und Geleier.“ Der Luzerner Musikhistoriker Urs Fässler versucht sich immerhin mit einer Erklärung: „Mozart und Beethoven haben die Natur des Menschen in einer Weise ernst genommen, die Bach befremdet hätte.“ Wo aber wird einem das heutzutage noch geboten? Bildhaft könnte man sagen: Mit Bach bist du nicht nur Deutschland, sondern schon heute die ganze Welt.

JAN-HENDRIK WULF

du 764, 12 €