„Der Ansatz ist falsch“

VORTRAG Oskar Negt will soziale Probleme in den Vordergrund der Europapolitik rücken

■ 79, ehemals Professor für Soziologe an der Universität Hannover. Sein jüngstes Werk ist ein „Gesellschaftsentwurf Europa - Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen“

taz: Herr Negt, verfolgt die Bundesregierung ein falsches Krisenmanagement für Europa?

Oskar Negt: Ich würde das nicht Krisenmanagement nennen. Ich denke, das wäre zu positiv. Der Ansatz, die Krise zu lösen, ist grundlegend falsch. Die Konzentration auf finanzielle Probleme löst bei den Menschen das Gefühl aus, dass Europa ihnen etwas wegnimmt.

Das Gefühl hat die deutsche Bevölkerung immer mehr.

Das gilt nicht nur für die Deutschen. Die Griechen und Spanier haben das Gefühl, dass ihnen ihre Arbeit und ihre Zukunft genommen wird. Das ist das Problem, das wir lösen müssen. Derzeit werden nur Lösungen für Banken geschaffen. Jetzt müssen die sozialen Probleme in den Vordergrund rücken.

Geht es dabei nicht auch um Geld?

Ja, aber haben Sie das Gefühl, dass das Geld fehlt? Geld ist heute da, so viel wie seit Jahrzenten nicht mehr.

Kann es eine Lösung sein, südeuropäische Fachkräfte nach Deutschland zu holen?

Das glaube ich nicht. Die Menschen verlassen doch nicht freiwillig ihre Heimat. Die Not zwingt sie, auf Wanderschaft zu gehen. Dazu kommt, dass die Angst, die eigene Identität zu verlieren, den rechtsradikalen Strömungen in die Hände spielt.

Muss es in Deutschland zu einem Regierungswechsel kommen, um einen neuen europapolitischen Kurs einzuschlagen?

Ja, wahrscheinlich schon. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sich die Grünen und Sozialdemokraten weit genug auf die soziale Ebene hinab bewegen werden.

Interview: Jurik Iser

19 Uhr, Kaminsaal, Bremer Rathaus