Die nackte Existenz, gefilmt ohne Genehmigung

LIDOKINO 8 Wang Bings Dokumentarfilm aus einer psychiatrischen Anstalt in China ist eine Herausforderung – und eine Entdeckung

Die Mostra hat in diesem Jahr ein Faible für lange Filme. Edgar Reitz’ „Die andere Heimat“ dauert 3 Stunden und 50 Minuten, Frederick Wisemans Dokumentarfilm „At Berkeley“ 4 Stunden und 4 Minuten, Philip Grönings Wettbewerbsbeitrag „Die Frau des Polizisten“ kommt auf 175 und Wang Bings „Feng Ai“ („’Til Madness Do Us Part“) auf 227 Minuten. Im reichen Angebot des Festivals ist das eine Herausforderung: Gegen welche Filme entscheidet man sich, damit man den einen überlangen gucken kann? Wie konzentriert man sich über eine solche Zeitspanne hinweg, wenn das Gebot der Stunde Multitasking lautet? Und wieso läuft die Klimaanlage in der Sala Perla schon wieder mit solcher Kraft, dass man Wintermantel bräuchte, um vier Stunden zu überstehen?

Wer derlei weltliche Sorgen hinter sich lässt, wird von Wang Bing reich belohnt. Der 1967 geborene Dokumentarist hat im chinesischen Kino die Rolle inne, die in der Literatur Liao Yiwu zukommt. Er wendet sich denjenigen zu, von denen sich der Modernisierungsprozess abwendet, zum Beispiel verarmten Bauern oder arbeitslosen Stahlarbeitern, und er dreht ohne offizielle Genehmigung. In seinem außer Konkurrenz gezeigten Film „Feng Ai“ geht es um Männer, die in einer Anstalt in Yunnan einsitzen, einer Provinz im Südwesten Chinas. Die Anstalt ist ein dreistöckiges, viereckiges Gebäude, das um einen großen Hof herum errichtet ist, die Gänge zum Hof sind vergittert, von ihnen gehen spartanische Zimmer ab, darin jeweils fünf Betten. Auf einem Stockwerk mögen es insgesamt 30 Zimmer sein. Es gibt keine Schränke, keine Sofas, keine Sessel, einzig ein paar Holzbänke auf dem Gang und im Gemeinschaftsraum. Ein Waschbecken muss für ein Stockwerk reichen, ein paar türlose Toiletten finden sich in einer Ecke, die meisten Insassen nutzen sie nicht, sondern urinieren, wo sie gerade stehen.

Ärzte und Pfleger sieht man nur, wenn Medikamente ausgegeben werden, therapeutische Gespräche finden entweder nicht statt, oder Wang Bing kann sie nicht filmen. Viele der Männer sind seit neun, zehn Jahren in der Anstalt, die meisten wirken apathisch, nur wenige psychisch krank. Einem jungen Mann sieht man lange dabei zu, wie er sein Bett zu ordnen versucht, während das Schnarchen der anderen aus dem Off zu hören ist. Danach versieht er seine Beine mit Schriftzeichen und einer Peniszeichnung. Ein anderer ist aggressiv, tritt ein Bett kaputt, rennt den Gang entlang, die Kamera folgt ihm mehrere Runden lang. Ein dritter ist nur stumm.

Wang Bings Bilder sind Produkt niedrig auflösenden Digitalvideos; sie sind kunstlos und machen aus ihrer Beschränktheit keinen Hehl. Ihre Wirkung entfalten sie in der Beharrlichkeit, in der Wiederholung immer gleicher oder leicht variierter Abläufe. Dadurch wird es möglich, die materiellen Gegebenheiten dieses Ortes zu erfassen und zu erkennen, wie sich die Bewegungen der Männer dazu verhalten; davon ausgehend lässt sich dann eine Vorstellung entwickeln, was es bedeutet, wenn man keinen Spielraum hat, kein Hab und Gut, keine Privatsphäre und keine Tätigkeit, die sinnvoll wäre. Was bleibt, ist nackte Existenz. In den zahlreichen Szenen, in denen sich ein Insasse dem Winter zum Trotz auszieht, ist das ganz buchstäblich zu verstehen.

Aber „Feng Ai“ schickt sich nicht in die Trostlosigkeit dieser Verhältnisse. Der Film beginnt mit einer langen Einstellung auf ein Bett, in dem zwei Männer liegen. Nach einer Weile werfen sie die schwere Decke ab. Vielleicht haben sie eine sexuelle Beziehung, aber das ist in diesem Augenblick gar nicht entscheidend. Viel wichtiger ist es zu sehen, wie ungebrochen das Bedürfnis nach Nähe selbst in diesem feindlichen Umfeld ist. CRISTINA NORD