Im Inneren der Schicksalsmaschine

SORGENPROFIS Seit 15 Jahren offenbaren Anrufer dem WDR-Moderator Jürgen Domian ihre intimsten Geheimnisse. Um vom „Domian“-Team ins Studio gestellt zu werden, brauchen sie mindestens einen Dreier-Notendurchschnitt

 Die Sendung: Seit 15 Jahren spricht Jürgen Domian nachts im WDR-Fernsehen und auf EinsLive mit seinen Anrufern über ihre Geschichten – das sind bisher etwa 18.000 Interviews. Jüngster Anrufer: 11 Jahre. Älteste Anruferin: 91.

 Reinkommen: Telefon 08 00-2 20 50 50. Oder Mail an domian@wdr.de. Je kürzer die Mail, je prägnanter die Geschichte, desto größer die Chancen.

 Der Moderator: Geboren in Gummersbach, lebt in Köln. Nach der Sendung schläft er nicht, sondern schreibt. Gerade ist sein zweiter Roman erschienen: „Der Gedankenleser“ (Heyne) ist nach einem Unfall dazu verdammt, mehr zu hören, als Menschen sagen.

VON STEFAN KUZMANY

Den ganzen Tag, vierundzwanzig Stunden lang, geschieht es da draußen, das Leben, das Schicksal, alles, irgendwo, irgendwem, unerzählt und ungehört. Von Dienstag bis Freitag aber, seit etwas über fünfzehn Jahren, immer um Punkt null Uhr null, nur nicht in den Ferien, öffnen sich die Schleusen einer Schicksalsmaschine für zwei Stunden. Sie befindet sich in einem Großraumbüro im Kölner Mediapark und ist telefonisch erreichbar. Tagsüber arbeitet hier die Redaktion der WDR-Jugendwelle EinsLive. Nachts sendet von hier „Domian – das EinsLive Talkradio“.

Hallo … Birgit … wie alt bist du? … Worüber willst du mit Domian sprechen, Birgit? … Also, deine Tochter ist neunzehn … und die ist schwanger … Wie lange ist sie mit dem Vater zusammen? … Ach, gar nicht … Hör zu, Birgit: Ich gebe das weiter an die Regie. Vielleicht ruft dich jemand zurück.

Christian Wunderlich, 30, Headset auf dem blonden Kopf, in dieser Nacht einer der drei Rechercheure Domians, der Schleusenwärter, klickt die Anruferin weg, dabei schüttelt er den Kopf. Birgit kann ihre Geschichte nicht auf den Punkt bringen. Sie wird heute niemand mehr zurückrufen. Das Telefon klingelt sofort wieder. Jede Nacht wollen fünfzehn- bis zwanzigtausend Menschen mit Jürgen Domian sprechen, der ihnen zuhört, ihnen rät, der mit ihnen fühlt, live on air für zehn Minuten, mal länger, mal kürzer, je nachdem, je nach Schicksal.

Private Gesprächssituation

„Parasoziale Interaktion“ nennt die Medienpsychologie das Phänomen, wenn Nutzer von Massenmedien an ein individuelles Verhältnis zwischen sich selbst und dem Medienmenschen auf dem Bildschirm glauben. „Domian“ scheint ein Musterbeispiel dafür zu sein. Der Moderator erzeugt eine quasi private Gesprächssituation. Für viele seiner Zuhörer ist Domian nicht nur wie ein Freund – er ist ihr einziger Freund. Vielleicht müsste man sagen: Parafreund.

Jürgen Domian, 52, kurz geschorene Haare, beugt sich über eine Pappschachtel, entnimmt ihr ein weißes Stück Stoff, befestigt es vor einem Scheinwerfer, beugt sich wieder über die Pappschachtel, entnimmt einen weißen Hirsch in Briefbeschwerergröße und stellt ihn auf seinen markierten Platz. Dann schiebt er so etwas wie eine Kulisse vor die Studiowand. Es ist unmöglich, Fernsehen noch preisgünstiger zu produzieren. „Für mich ist diese Arbeit mehr, als ein Talkmaster zu sein“, sagt Domian. Nicht selten ist er es, sagt Domian, dem Anrufer als erstem Menschen von schlimmsten Erfahrungen erzählen. Wenn er dann den Anstoß geben kann, das Trauma aufzuarbeiten, dann hat sich die Arbeit für ihn gelohnt: „Wenn ich gravierend in die Biografie von Menschen eingreifen kann – das freut mich.“ Dabei ist Domian nie wirklich der Erste, der die intimsten Details erfährt. Es gibt sehr viele Erste.

Ab ein Uhr früh wird live gesendet. Jede Nacht sehen um die zweihunderttausend Menschen Jürgen Domian im WDR-Fernsehen sitzen und telefonieren, dazu kommen noch ungezählte Radiohörer. Einmal pro Woche ist ein Thema vorgegeben, in dieser Nacht darf über alles gesprochen werden: offene Sendung.

Etwa hundert Anrufer kommen durch jede Nacht, dazu noch etwa achtzig Mails. Die meisten werden sofort aussortiert: Die Anrufer sind emotional labil oder stehen unter Drogen. Sie sprechen undeutlich. Die Geschichte scheint erfunden zu sein. Die Geschichte ist schlecht. Die Leitung ist schlecht. Die Rechercheure machen sich eine Notiz für die Datenbank: Vorname, Alter, Telefonnummer, Grund des Anrufs, Schulnoten für Person und Schicksal. Viele haben schon oft angerufen. Für die Sendung braucht man mindestens einen Dreier-Notendurchschnitt.

Ausgebuffter Realisator

Letztlich entscheidet darüber Jan Graefe zu Baringdorf, 34, der Realisator. Er prüft die Favoriten noch mal auf Glaubwürdigkeit und Ausdrucksgabe. In zehn Jahren bei „Domian“, sagt er, habe er tausendmal über dieselben Themen gesprochen, trotzdem sei jedes Gespräch neu, weil jeder andere Aspekte thematisiere. Wie er die Güte eines Schicksals bewertet, erklärt Graefe zu Baringdorf so: „Die Leute müssen gut sein. Und die Geschichte muss gut sein.“ Aber was heißt „gut“? Nur sehr selten bekommt eine Geschichte eine Eins.

Ein Uhr. Der Vorspann läuft. „So, liebe Leute“, beginnt Jürgen Domian wie jede Nacht. Als erste Anruferin hat ihm der Realisator Edith ins Studio gelegt. Sie ist 63 Jahre alt, vor sechs Wochen ist ihr Mann im Schlafzimmer an einer Lungenembolie gestorben. Seither kann sie diesen Raum nicht mehr betreten. Domian rät zum Umzug, der ist aber aus finanziellen Gründen ausgeschlossen. Er findet es gut, dass der Sohn vielleicht wieder einziehen will.

Als Edith zum zweiten Mal den Todeskampf ihres Gatten schildert, steuert Domian das Gespräch sanft, aber bestimmt seinem Ende entgegen. Er benützt dafür eine dieser typischen Domian-Formulierungen: Ist jemand dem Tode nahe, wünscht Domian „viel Kraft“. Steht eine lebensverändernde Entscheidung an, hat Domian stets eine klare Meinung. Und verpflichtet seinen Anrufer, sich an das Verabredete zu halten: „Du musst mir versprechen, dass du das tust.“ Am Ende sagt er oft: „Von ganzem Herzen alles Gute.“ Und wenn ein Schicksal zwar schlimm, aber auserzählt ist, wenn „die Zeit davonläuft“, dann sagt Domian, was er jetzt auch zu Edith sagt: „Ich möchte dir anbieten, noch mit unserem Psychologen zu sprechen. Du legst jetzt bitte auf, und wir rufen dich gleich an.“

Wir, das ist in dieser Nacht der Psychologe Peter Owsianowski, 54, und auch schon lange im „Domian“-Team. Er macht sich über die Grenzen der Sendung keine Illusionen: „Oft haben wir es mit Lebensereignissen zu tun, da gibt es keine Lösung. Was soll man schon zu jemandem sagen, der eine Krebsdiagnose bekommen hat? Wende dich an die Krebsgesellschaft.“

Dann ruft er Edith an, plaudert mit ihr, beruhigt sie und fragt, ob sie jemanden zum Reden habe. Aha, eine Pfarrerin? Eine sehr nette? Aber das ist doch sehr gut. Zwei Schreibtische weiter drängen schon die nächsten Schicksale in die Sendung. Wie alt bist du denn? … Aha … Wie weit ist denn die Krankheit schon vorangeschritten? „Das ist alles, was ich im Moment für dich tun kann“, sagt der Psychologe zu Edith. Wenn nötig, sucht das Team Beratungsstellen für die Anrufer heraus. Bemerkt man Suizidabsichten, wird der Fall an die Polizei abgegeben. Immer an die nächste zuständige Instanz.

Jürgen Domian spricht jetzt mit Darinka, 20, die von ihrer Freundin geschlagen wird. In der Sendung redet sie zum ersten Mal live darüber, dass sie als 12-Jährige vergewaltigt wurde. Dann berichtet Inge, 55, von ihrer Arbeit als Krankenschwester im Hospiz. Marion, 48, hat gestern ihren Sohn, 24, tot im Bett gefunden. In der Leitung wartet noch Ute, 47, die eine langjährige Affäre mit einem Familienvater hat. Der Realisator checkt, ob sie geeignet ist: „Wie oft trefft ihr euch? Wo? Habt ihr auch woanders Sex oder nur in der Wohnung?“ Domian zu hören ist, wie einen Autounfall zu beobachten: Man kann nicht wegsehen. Und man ist froh, dass es einem selbst besser geht als den Anrufern.

Aufgekratzter Moderator

Zwei Uhr. Die Schicksalsmaschine schließt die Schleusen, aber es dauert eine Weile, bis ihre Turbinen zur Ruhe kommen. Jürgen Domian ist aufgekratzt, er will wissen, wie er war. Das Team setzt sich im Halbkreis zusammen und spricht die Fälle der Nacht noch mal durch.

Marion, die mit dem toten Sohn, habe so seltsam unbeteiligt gewirkt, bemerkt einer der Rechercheure. „Das ist der Schock. Der Sohn ist erst gestern gestorben“, sagt Domian. „Ich garantiere dir, wenn ich in einer Woche mit ihr reden würde, dann weint sie.“ Einige interessante Geschichten, die es heute nicht geschafft haben, könne man vormerken, sagt der Realisator. Er referiert: Eine junge Frau ist schwanger nach einer Vergewaltigung. Eine 41-Jährige ist aus heiterem Himmel von ihrer 26 Jahre alten Freundin verlassen worden. Rolf kennt den Amokläufer von Winnenden. Lars, 14, ritzt sich die Arme auf. Und Nicos Vater und Schwester sind vor drei Tagen bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seine Mutter liegt im Koma. Vielleicht ruft ihn in der nächsten Sendung jemand zurück.