Berufseinstieg mit Prädikat

FACHKRÄFTE Der Mangel an Nachwuchslehrern trifft auch Waldorfschulen. Einige erleichtern unerfahrenen Kollegen mit einem Mentoring-Modell den Berufseinstieg

600 neue Lehrer pro Jahr brauchen die über 230 deutschen Waldorfschulen

VON CHRISTOPH RASCH

Die Herausforderungen für junge Lehrer kennt Erika Fischer nur zu gut. Die Pädagogin ist Beauftragte für die Einarbeitung von Nachwuchskollegen an der Freien Waldorfschule in Wiesbaden – und weiß: „Oft wollen Schüler gerade junge, unerfahrene Kollegen austesten“, berichtet sie. „Da geht es für uns Lehrer um die Frage: Wie organisiere ich den Unterricht so, dass die Schüler gar nicht erst auf die Idee kommen, Blödsinn zu machen?“

Grenzen setzen, zugleich die Schüler mit kreativen Ideen für den Unterrichtsstoff begeistern –– ein Balanceakt, bei dem vielen Berufsanfängern schlicht die Erfahrung fehlt. An der Wiesbadener Waldorfschule greift man den jungen Kollegen deshalb unter die Arme – mit der sogenannten qualifizierten Berufseinführung: Ausgebildete Mentoren wie Erika Fischer betreuen dabei die Junglehrer, begleiten sie in den Unterricht und arbeiten die Erlebnisse in anschließenden Reflexionsgesprächen auf. Nach mehreren Hospitationen gibt der Nachwuchspädagoge am Ende des Schuljahrs eine Lehrprobe.

Wie wird der Unterricht geplant? Wie schafft man es, die Schüler weder zu über- noch zu unterfordern? Und was ist genau richtig für diese und jene Altersstufe? Um als Pädagoge all diese Aspekte richtig einschätzen zu können, brauche es einen langen Lernprozess, sagt Waldorflehrerin Erika Fischer: „Der Arzt wird erst am Patienten zum Arzt, und der Lehrer findet seine Rolle nur in der direkten Praxis vor den Schülern.“

Ein Referendariat wie an staatlichen Schulen gibt es im Waldorfsystem nicht. Das 2009 ins Leben gerufene und zwei Jahre später gestartete Modellprojekt der qualifizierten Berufseinführung will diesen Praxismangel kompensieren – und die Beteiligten ziehen nach zwei Schuljahren ein positives Fazit des Modells: Ein halbes Dutzend Waldorfschulen hat das Programm bisher erprobt und wurde entsprechend zertifiziert: Als Bedingung müssen die Schulen einen Einarbeitungsbeauftragten benennen und individuelle Qualifizierungsmaßnahmen vereinbaren – auch um verstärkt „Quereinsteiger“ aus dem staatlichen Schuldienst fit für den Waldorfunterricht fit zu machen. Denn von denen interessieren sich immer mehr für einen Wechsel in die Waldorfpädagogik. Mit speziellen Flyern werben die Waldorfschulen um die konventionellen Lehrkräfte – und deren Resonanz, etwa auf Bildungsmessen, nehme zu, heißt es.

„Schulen, die dieses verbindliche und genau geregelte Programm anbieten, stehen im Wettbewerb um Nachwuchskräfte insgesamt deutlich besser da“, sagt Henning Kullak-Ublick, Vorstand beim Bund der Freien Waldorfschulen (BdFWS). 600 neue Lehrer pro Jahr brauchen die mehr als 230 deutschen Waldorfschulen, um ihren Personalbedarf zu decken – denn auch hier sind die Kollegien stark überaltert. Doch die Verjüngung gelingt nur teilweise. Vor allem außerhalb von Ballungsräumen wie Hamburg oder Berlin sowie in Ostdeutschland haben viele Schulen Schwierigkeiten, frisches Personal zu finden. Insbesondere für die Oberstufe suchen viele Schulen händeringend nach neuen Lehrern, heißt es beim BdFWS.

Für die Schulen geht es aber auch um Reputation: „Das Schlimmste wäre, wenn ein junger Kollege scheitert“, sagt die Wiesbadener Waldorflehrerin Erika Fischer, „das bringt auch Unruhe in die Elternschaft.“ Auch an ihrer Einrichtung mit mehr als 400 Schülern hat man mit dem Modell der qualifizierten Berufseinführung gute Erfahrungen gemacht. Zwei junge Kollegen wurden auf diese Weise erfolgreich eingearbeitet und ins Kollegium integriert, berichtet Erika Fischer. Für sie ist besonders wichtig: der zeitliche und finanzielle Freiraum für beide Seiten. „Die Mentoren werden freigestellt, oder ihre Arbeit wird extra vergütet“, sagt sie, „während die Junglehrer im ersten Berufsjahr bei vollem Gehalt weniger arbeiten müssen und von organisatorischen Aufgaben in der Schule befreit sind.“

Die bisher beteiligten Schulen in Gütersloh, Kassel, Krefeld, Minden, Mainz und eben Wiesbaden erhalten für ihre offizielle Teilnahme an der qualifizierten Berufseinführung auch eine finanzielle Unterstützung vom BdFWS. Mehr als zehn weitere Waldorfschulen bundesweit interessieren sich ebenfalls für eine Teilnahme oder befinden sich bereits im Anerkennungsverfahren, wieder andere erproben eigene Mentoring-Verfahren. Das Modell, jungen Waldorflehrern den Berufseinstieg zu erleichtern, dürfte also weiter Schule machen – im wahrsten Sinne.