Blick in brasilianische Abgründe

ILB 4 Bei der Langen Nacht der Brasilianischen Literatur gibt es Texte und Schnaps – den man für die Begegnungen mit dem Teufel auch gut gebrauchen kann

„Der Mythos vom dauerfriedlichen Gutelaune-Brasilianer ist völlig verfehlt“

ANA MARIA GONÇALVES

Der Titel lautet „Pornopopéia“. Um Missverständnisse zu vermeiden erklärt Reinaldo Moraes gleich, dass es keinen Sex in seinem Buch gebe. Da seien nur Wörter drin. Und ähnlich zielstrebig, wie der Autor auf die Bühne springt, begibt sich sein Protagonist in die eigene Dekonstruktion: Er kokst, raucht, trinkt und besucht Bordelle. Es ist eine Welt ohne Gewissen, Moral oder Über-Ich, in die er den Leser führt.

Moraes ist einer von sechs Autoren, die die Organisatoren des Literaturfestivals Berlin zur Langen Nacht der Brasilianischen Literatur auf einen „Cachaça mit dem Teufel“ geladen haben. Die Figuren von Ana Maria Gonçalves begegnen diesem in „Defeito del Cor“ (auf Deutsch etwa „Hautfarbenfehler“) auf ganz andere Weise. Gewalt und Vergewaltigung beginnen schon im ersten Kapitel, und alles ist mit Fußnoten belegt. Die Geschichte Brasiliens müsse noch erzählt werden, sagt die Autorin, der Mythos vom dauerfriedlichen Gutelaune-Brasilianer sei völlig verfehlt.

Das literarische Speeddating, wie Moderator Michael Kegler es nennt, geht weiter mit Ana Paula Maia. Sie liebt die Übertreibung: „Krieg der Bastarde“ beginnt damit, dass jemand Kokain aus einer Pornoproduktionsfirma klaut, es in Geld verwandelt, dann allerdings mit dem Ohr am Seitenspiegel eines Autos hängen bleibt und stirbt. Ihre Hauptfigur beschreibt Maia als den Mann, den sie gern heiraten würde, und sich selbst als Punkrockerin. Zum Beweis und zum Spaß zitiert sie kurz ein Lied aus der eigenen Jugendband, es geht um Fische.

Und dann kommt Ricardo Aleixo. Dessen Name und Gedichte sollte man sich hinter die Ohren schreiben, live ist er ein Gesamtphänomen. Während er von Berlin, von der „ziellosen Schönheit“ eines Mädchens und dem „Sichtbarmachen von Spuren des Panthers“ spricht, tanzt er mit Hut, zerknüllt Papier und klappert gleichzeitig mit einer Kette, die direkt aus dem Urwald zu kommen scheint. Und als er berichtet, wie eine Schlange ohne Worte Gedanken verschlang, wie es ihr gelang, ihren eigenen Kopf zu verschlingen – hängt er auf einmal selbst mit dem Hals in der Kette.

Das letzte Kapitel des Abends bestreiten Paulo Scott und João Paulo Cuenca gemeinsam. Der Moderator kommt mit Sonnenbrille auf die Bühne, denn die gehört zu Cuencas „Mastroianni – ein Tag“, so wie der Dry Martini, Pferdewetten und eine metaphysische Lebenskrise. Wie in „Unwirkliche Bewohner“ von Paulo Scott befinden sich die Protagonisten in Schwebezuständen der Identität, beide Romane drehen sich um das gestörte Verhältnis der Brasilianer zur Politik.

Gemeinsam zählen die Autoren die Missstände ihres Landes auf, sie könnten die Lange Nacht problemlos zu einer Endlosen ausweiten: In den Favelas übernimmt die Polizei die Struktur der Drogenkartelle, niemand tut etwas gegen die Massaker, und insgesamt gibt es heute mehr Vermisste als zu Zeiten der Militärdiktatur. Übrigens bekommt auch das Publikum einen Cachaça. Den braucht man, um für die Begegnung mit Brasilien und dessen Teufeln gewappnet zu sein. Zumindest einen Cachaça. Oder eben Literatur.

CATARINA VON WEDEMEYER