Ein Bürge für die Sicherheit aller

GEWINNER Tokio überzeugt die deutliche Mehrheit des IOC und darf nun die Olympischen Spiele 2020 ausrichten. Mit einer nahezu perfekten Präsentation können die Japaner auch von eklatanten Schwachstellen ablenken

■ Japan: „Ich bin überwältigt. Wir brauchen Träume und Hoffnung, um unseren Wiederaufbau voranzutreiben.“ (Premierminister Shinzo Abe) „Olympia kommt wieder nach Japan, Tokio wird wiedergeboren.“ (Tageszeitung Nikkei) „Explosion der Freude über die Entscheidung.“ (Tageszeitung Mainichi Shimbun) „Auch aus den Katastrophengebieten gibt es Stimmen der Erwartung.“ (Fukushima Shimbun)

■ Spanien: „Das ist furchtbar.“ (Madrids Bürgermeisterin Ana Botella) „Madrid hat Verstand, das IOC nicht.“ (Sportzeitung AS) „Das im Überfluss schwelgende IOC wertete die Austerität der Madrider Kandidatur als ein Zeichen von Schwäche.“ (EL País)

■ Türkei: „Ich bin nur traurig, dass das ausgewählte Land die Spiele schon einmal ausgerichtet hat.“ (Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan) „Wieder nicht! … Wir haben hart dafür gearbeitet, aber wir haben es wieder nicht geschafft. Aber das ist nicht das Ende der Welt.“ (Sportzeitung Fanatik)

AUS TOKIO FELIX LILL

„Unsere Vortragenden sind immer besser vorbereitet. Diejenigen, die unsere Proben angesehen haben, fanden unsere Vorstellung fast schon perfekt“, prahlte der Tokioter Gouverneur Naoki Inose am Samstagnachmittag, kurz bevor er und seine Kollegen die finale, 45-minütige Vorstellung gaben. Nach einer viel gelobten Präsentation vor dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), angeführt von der kaiserlichen Prinzessin Hisako, konnte sich Tokio im zweiten Wahlgang mit 60 zu 36 Stimmen gegen den Mitbewerber Istanbul durchsetzen. Zuvor war Madrid ausgeschieden. Die Olympischen Spiele 2020 werden damit zum zweiten Mal nach 1964 in der japanischen Hauptstadt stattfinden.

Zwar war Tokio schon unter den Buchmachern Favorit gewesen, aber als sich Mitte Juli herausstellte, dass in den seit März 2011 havarierten Atomreaktoren in Fukushima täglich rund 300 Tonnen radioaktives Wasser auslaufen, stand die Bewerbung auf wackligen Beinen. Fukushima liegt rund 200 Kilometer nordöstlich von Tokio, wie sicher ist Japans Hauptstadt also noch? Immerhin konnte sich Tokio gegenüber Istanbul und Madrid, die jeweils entweder mit politischen und sportpolitischen Skandalen oder wirtschaftlichen Problemen kämpften, als die sichere Option präsentieren.

Am Wahltag des IOC in Buenos Aires hoben die japanischen Vertreter erneut ihre Verlässlichkeit hervor. Die Finanzierung der Spiele sei gesichert, extrem kurze Wege zwischen den Wettkampfstätten garantiert, ein Gros der nötigen Infrastruktur schon vorhanden und auch an die Umwelt gedacht.

Insbesondere müsse sich die Welt nicht um Radioaktivität sorgen. „Das verseuchte Wasser begrenzt sich auf den Bereich vor Fukushima“, sagte der japanische Premierminister Shinzo Abe. Und er versprach: „Ich bin für die Sicherheit der Jugend in Fukushima genauso verantwortlich wie für die der Athleten im Jahr 2020, und ich werde dieser Verantwortung nachkommen.“ Er bürgt also persönlich für die Sicherheit dieser Spiele.

Dies waren offenbar die richtigen Worte, die Japans Premier wählte. Von offizieller Seite hatte es zuletzt nicht nur in Bezug auf Fukushima bedenkliche Meldungen gegeben. Ein Thema, das Tokios Bewerbungskomitee immerzu betonte, war etwa die Weltoffenheit der Stadt. Eine Farce vor dem Hintergrund der Ereignisse in den letzten Monaten. Im April hatte Tokios Gouverneur Inose in einem Interview mit der New York Times den Mitbewerber Istanbul diffamiert. Die Stadt sei unterentwickelt und als Austragungsort ungeeignet, auch weil dort noch zu viel Infrastruktur fehle. Über muslimische Länder generell sagte Inose: „Das Einzige, was sie gemein haben, ist Allah, dass sie sich gegenseitig bekriegen und (soziale) Klassen haben.“ Inose wurde erst Ende vergangenen Jahres durch den rechtsnationalen Shintaro Ishihara als dessen Nachfolger installiert. Ishihara machte in seiner Amtszeit pauschal Ausländer für Kriminalität in Tokio verantwortlich und verharmloste immerzu Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg. Auch landesweit kann sich Japan nicht mit Ausländerfreundlichkeit rühmen. Die Hürden für Einwanderung sind hoch, nur rund zwei Prozent der Einwohner sind Ausländer. 2011 baten 1.867 Menschen um Asyl, 21 wurden angenommen.

Dass Tokio die Spiele trotzdem veranstalten darf, liegt womöglich auch an dem Antidopingkampf, mit dem das japanische olympische Komitee für sich warb. Die Türkei wurde gerade von einem Dopingskandal eingeholt, Spanien hat nach etlichen Manipulationsskandalen sowieso einen schlechten Ruf. „Tokyo 2020“ hingegen betonte die Integrität des Sports. Dabei wurde erst im Januar publik, dass ein Trainer der Judo-Frauennationalmannschaft seine Athletinnen mit einem Bambusstock malträtiert hatte. Infolgedessen wurde auch ein Fall von sexuellem Missbrauch aufgedeckt. Im Baseball, dem beliebtesten Sport Japans, musste sich zuletzt die Profiliga entschuldigen, weil sie heimlich ihre Bälle verändert hatte, um mehr Homeruns zu ermöglichen. All das blieb aber im Hintergrund. Spätestens mit ihren nahezu perfekten Präsentationen konnte das Tokioter Komitee diese dunklen Seiten vergessen machen.

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