Augen schließen geht nicht

ILB 5 Bei Martina Hefters Lesung war Multitasking verlangt, beim „Literarischen Quartett der Zukunft“ wurden Computerspiele besprochen

Computerspiele könnten somit auch gesellschaftliche Anliegen verhandeln

Eine graue Sonntagsstimmung hat sich über das internationale Literaturfestival gelegt, aber wahrscheinlich liegt es nur an mir: an meinen müden Augen und am Wein des Vorabends. Möchte ich lieber zur Vorstellung eines Ballerspiels oder zum Kookbooks-Nachmittag? Nein: „Martina Hefters Gedichtband ‚Vom Gehen und Stehen‘ erkundet die Wechselspiele zwischen Körperhaltungen, Denken und Sprechen.“ Das hört sich doch gut an: Augen schließen und zuhören.

Ich versäume aber leider, den Rest der Veranstaltungsbeschreibung zu lesen. Thomas Böhm, einer der beiden Chefs des Festivals, der stets gut gelaunt, stilvoll gekleidet und mit seiner Fliege erscheint, eröffnet die Veranstaltung. Handys sollen ausgeschaltet werden, das sei ganz wichtig. Augen schließen geht nicht, denn Andreas Töpfer begleitet die Veranstaltung mit Illustrationen auf Folie, während Sabine Scho über „Tiere in Architektur“ erzählt. Töpfer zeichnet Gehege und Aquarien, später Flamingos und andere komische Tierchen.

Ich bin zu spießig für solche Formate der Literatur. Multitasking war noch nie was für mich, ich bin hilflos den Zeichnungen ausgeliefert, die übrigens immer skurriler werden. Dann kommt Martina Reher auf die Bühne und meine Überforderung nimmt zu. Denn jetzt gibt es nicht nur Zeichnungen und Texte, sondern auch gleichzeitig eine Tanzperformance. „Wie geht Hüpfen im Stehen? Wie geht Hüpfen im Stehen? … Das ist Wahnsinn … Wahnsinn … Wannsee … Waren Sie das?“ Sie steht auf, tanzt, setzt sich wieder hin, flüstert, schaut fordernd ins Publikum.

Bei der zweiten Veranstaltung, dem „Literarischen Quartett der Zukunft“, geht es endlich ums Zocken – denn Computerspiele, so eine der Arbeitsthesen des Festivals, könnten demnächst die Rolle der Literatur einnehmen. Da sind junge, dunkel gekleidete Menschen in einem schummrigen Bühnenraum. Juhu, da ist auch wieder Thomas Böhm, der dieses Mal mit einem Zitat von Schriftsteller Daniel Kehlmann beginnt: „Wenn man auf der Bühne sitzt, macht es nichts aus, wenn ein Handy klingelt. Im Publikum ist es die Hölle.“ Christian Schiffer stellt statt Literatur das erste Computerspiel vor: Sieben Stunden am Stück kontrolliert man bei „Papers, Please“ Personalpapiere für die Einreise in einen totalitären Staat. Ist man nicht vorsichtig genug, kann es zu Terrorwarnungen kommen, und da man die Aufgabe hat, eine Familie zu ernähren, sollte man sich diese Fehler nicht erlauben. Am Anfang versucht der Spieler sich trotzdem als humaner Beamter, auch wenn er mit Geld oder Karten für das örtliche Bordell bestochen werden kann. Am Ende wird man aber zu einer geölten bürokratischen Maschine, da die Routine siegt. Computerspiele könnten somit auch gesellschaftliche Anliegen verhandeln so wie Literatur, sagt Schiffer, sie müssen nicht Spaß machen. Was soll daran keinen Spaß machen?

Die Aussage entfacht eine hitzige Diskussion, und endlich werde ich wacher. Schriftstellerin Ulrike Draesner, die zweite im Quartett, stellt das Spiel „Minecraft“ vor: „Es ist ein Spiel für Männer. Man bewegt sich in Höhlen herum und muss überall draufhämmern.“ Ich versuche ein lautes Lachen zu unterdrücken, um zwischen den vielen männlichen potenziellen Draufhämmerern nicht aufzufallen.

Nach eineinhalb Stunden Diskussion vermisse ich doch wieder mein Sofa. Soll ich einen Blick auf mein Handy wagen? Mitten im Streit über verschiedene Spielertypen, ob Tekken-Spieler vorrangig RTL2-Zuschauer seien: Da sehe ich Thomas Böhm in der Reihe hinter mir. An seinem Handy. Es ist Zeit zu gehen.

SEYDA KURT