Der Soundtrack zum Leben

Es fühlt sich an wie Erinnerung, aber es ist nur Kino, das man im Kopf hat. Das Oldenburger Edith-Ruß-Haus für Medienkunst auf der Suche nach realen Orten hinter filmischen Inszenierungen

„Unsere Heimat sind auch die Bäume im Wald, das Gras auf den Wiesen...“, schmettern die Jungpioniere. Die Bilder, die man dazu sieht, taugen ganz und gar nicht zu Entgrenzungserlebnissen für den Naturfreund: eine Kamerafahrt durch düstere Straßenschluchten, Trabbis auf dem Parkplatz, Plattenbauten.

Nein, die New Yorker Künstlerin Amy Siegel hat hier nichts manipuliert. Sie lässt den Filmen, die sie im Defa-Archiv vorgefunden hat, ihre Original-Soundtracks und fügt ein Remake anno 2005 hinzu. Mit Hilfe der Drehbuch-Notizen aus den Archiven spürt sie die Berliner Drehorte auf, wiederholt die Kameraeinstellungen von damals und zeigt beide Sequenzen als Doppelprojektion. Und siehe da: Manche Dinge ändern sich nie. Die Plattenbauten haben nichts an Düsternis eingebüßt, die Touristenbusse mit ihren dümmlichen Werbesprüchen scheinen direkt aus dem Schwarz-Weiß-Film zu kommen. Der zum Bunker umfunktionierten U-Bahnstation Alexanderplatz aus dem namenlosen Kriegsfilm allerdings steht im Remake das Gewimmel des Feierabendverkehrs gegenüber. Plötzlich löst sich eine panische junge Frau aus der Menge: das moderne Alter Ego der Heldin aus dem Kriegsfilm. Sieht sich suchend um und flüchtet schließlich über die Gleise.

„Was ist so faszinierend an Re-Inszenierungen? Warum spielen Computerfans mit den ‚Sims‘ nächtelang ihren Alltag nach? Warum besuchen amerikanische Touristen lieber die Filmkulissen von ‚Schindlers Liste‘ als eine KZ-Gedenkstätte?“, fragt Sabine Himmelsbach, die Leiterin des Oldenburger Edith-Ruß-Hauses für Medienkunst. Um Antworten zu finden, hat das Haus Amy Siegel als Stipendiatin eingeladen. Ohne Nostalgie verwendet die Künstlerin Kino als Soundtrack zum gefühlten Hauptstadt-Puls.

Als Gegenpol zu Amy Siegels „Berlin Remake“ ist die Österreicherin Dorit Magreiter eingeladen worden, die britische und US-amerikanische Filme auseinander nimmt. Wo andere Filme erst beginnen, packt Magreiter nach getaner Arbeit schon wieder die Kamera ein: In einem Video hat sie festgehalten, wie ein Straßenzug in Liverpool ins 19. Jahrhundert zurückverwandelt wird. Wo Spuren der Gegenwart im Historienfilm peinlich versteckt werden, fährt ihre Kamera geradewegs zu den Lichtschaltern und Hinweisschildern, die das Künstliche der Inszenierung entlarven. Die Villa „10104 Angelo View Drive“ im gleichnamigen Film Magreiters wirkt sofort seltsam vertraut: Von James Bond bis zu „Drei Engel für Charlie“ hat das Haus unzähligen Filmen als Kulisse gedient.

Die Medienkunst mache aus, „dass sie ihre Aussage nur durch dieses Medium treffen kann“, definiert Sabine Himmelsbach. Wenn sie mit ihren Ausstellungen den Film kommentiert, ist sie überzeugt, kommentiert sie das Leben. Denn unsere Wahrnehmung und Erinnerung bestünden zum großen Teil aus dem, was Medien vermitteln. „Dabei achten wir meistens nur auf Inhalte, statt kritisch wahrzunehmen, wie sie vermittelt werden.“ Annedore Beelte

bis 7. Mai, Edith-Ruß-Haus für Medienkunst, Oldenburg